Zugfahren

Fast geräuschlos rauschen wir durch endlos weite Landschaften, begraben unter einer dicken weißen Schicht. Es ist früh, alles Leben scheint noch im Dämmerzustand, am Horizont, dort, wo sich erste Gipfel hinter der grauen Nebelwand erahnen lassen, lugt die Morgenröte hervor. Aurora, du Gepriesene, schenkst uns dein Licht, legst die Welt in flammendes Rot, an dem wir uns nie werden satt sehen können.
Silhouetten von Bäumen, ihre Äste schwer von Schnee und Eis, ein zugefrorener See, dazwischen immer wieder Felder, Wiesen, sich ähnelnd in ihrem pulvrig weißen Antlitz, eine sich endlos dehnende Fläche, so weit das Auge reicht — Projektionsfläche für kitschige Märchen und heimliche Träumereien.
Vorbei fliegen kleine Dörfer, ein Provinzbahnhof ohne jede Relevanz für unseren Zug, wir jagen weiter, immer weiter auf unserer Mission, Kilometer zu machen, auf dem Weg von A nach B nach C und immer weiter.
Zwei Räume, das Innen und das Außen, die verschmelzen – wenn auch nur für einen kurzen Moment. Hier ein von Menschen konstruierter High-Tech-Koloss, der sich der großen Geschwindigkeit rühmt und nirgends lange verweilt; dort der Raum, den er durchquert, Wälder, Hügel, Orte, die immer sind und immer bleiben. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichen in ihrer schönsten Form, stets in Bewegung: Begegnung von zwei Welten.
Unterwegssein, ohne sich selbst vom Fleck zu rühren; 220 Stundenkilometer, die dennoch das Gefühl vermitteln, gleichmäßig dahinzugleiten, nur schweben muss schöner sein. Hin und wieder ein kaum spürbares Schaukeln, wenn die Stahlräder Weichen passieren. Gemütliche Sitze, Panoramafenster, selbst brühwarmer Kaffee kommt an den Platz, kommt genau zur rechten Zeit, wenn der Körper erschlafft und der Kopf müde wird vor lauter Behaglichkeit. Das Buch liegt aufgeschlagen auf dem kleinen Klapptisch, was hatte man nicht alles geplant für diese Fahrt: produktiv sollte sie sein, die Zeit im Zug, ein bisschen arbeiten wollte man und dann – zur Belohnung – noch fünfzig Seiten in diesem fesselnden Roman. Stattdessen sitzt man da, die Beine ausgestreckt, die Hände im Schoß gefaltet, mit Augen so schwer wie Blei.
Zwei Reihen weiter ein junges Paar ins leise Gespräch vertieft, von irgendwoher scheppert ein dumpfer Bass aus billigen Kopfhörern, dann ein Kinderlachen. Lange vor dem nächsten Halt beginnt das Wuchten und Zerren, Koffer, Taschen, Buggys; jemand flucht, andere hetzen, bloß den Ausstieg nicht verpassen.
Die Schaffnerin bläst in ihre Trillerpfeife, alle Türen schließen, der Koloss löst die Bremsen und beschleunigt so rasant, als wäre er ein Leichtgewicht und nicht hunderte von Tonnen schwer.
Dann wieder Ruhe, ja beinahe Stille, und wir setzen sie fort: unsere Reise durch Zeit und Raum.