Daniela Caixeta Menezes

Zeit

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Es geht zu Ende, das Jahr, 365 Tage vorbeigezogen in Windeseile, als wäre es nichts, als würden all diese Tage und Stunden und Minuten nicht zählen; all die Zeit, zugebracht in Glück und Trauer, Ruhe und Sorge, verbracht mit Menschen, die gut tun, uns wichtig sind, genauso wie mit unliebsamen Begegnungen.

Alles zieht in derselben Geschwindigkeit an uns vorbei, Zeit kennt kein Gut und Böse, unterscheidet nicht, ist indifferent gegenüber unserem Wunsch, das Schöne zu bewahren und das weniger Schöne schnell vergehen zu lassen.

365 Tage für jeden Menschen auf dieser Welt, für uns alle geht das Jahr zu Ende. 8760 Stunden, 525.600 Minuten – das ist die Zeit, die jedem zur Verfügung stand. Wie haben wir sie genutzt, was daraus gemacht: aus diesem Geschenk namens Leben, ein weiteres Jahr, Tag für Tag?

Voller Wehmut blicken wir auf Kinder, bewundern sie für ihre Gabe, ganz im Moment zu sein, wann nur ist sie uns verloren gegangen? Ein einziger Tag währt eine Ewigkeit: schafft Wert für die Ewigkeit.
Das kindliche Spiel, eine Zeitmaschine, die erschafft, wonach wir uns sehnen und was wir doch auf immer verloren haben: das Gefühl unendlicher Zeit; Tage, Stunden, Minuten, nach Belieben gefüllt mit Dingen, realen wie imaginierten zugleich. Ein Jahr voller Jetzt-Momente, so reich und erfüllend, dass es scheint, als steckten mehrere darin.

Zeit diskriminiert nicht, nein, jeder hat gleich viel davon. Doch maßen wir uns nicht an, gleichzusetzen, was nicht gleichzusetzen ist.
Ein Jahr im Krieg ist ein anderes als jenes im Frieden, dehnt sich aus, fühlt sich schwer und endlos an – ganz gleich, wie viele Stunden es hat. 8760 Stunden ohne Schutz sind nicht dasselbe wie die gleiche Anzahl an Stunden in Sicherheit, mit Wärme, mit einem Dach über dem Kopf. Wer 525.600 Minuten in Angst ausharrt, verlernt und vergisst furchtlos zu sein, sei es auch nur für eine einzige Sekunde.

Zeit, die geteilt nicht weniger wird. 8760 Stunden zusammen verändern sich nicht, die physikalische Größe bleibt dieselbe.

Und doch verändert sich zugleich alles: geteilte Zeit, die doppelt wirkt, wenngleich auch sie rasend schnell vergeht. Was bleibt, ist dennoch mehr als die vergangenen Stunden, mehr als bloße Zeit: was bleibt, ist ein Gefühl, das sich nicht fassen lässt mit dem auf Zeit geeichten Verstand.

Das alte Jahr geht zu Ende, ein neues beginnt. Gute Vorsätze werden zum Leitmotiv. Manch einer wünscht sich mehr Zeit, als hoffe er, die Naturgesetze aushebeln zu können. Aber der Tag wird nie mehr als 24 Stunden, eine Stunde niemals mehr als 60 Minuten haben. Zeit ist unveränderlich – und ändert sich doch im Auge des Betrachters.