Die Karte ist nicht das Territorium
Eine Karte ist ein Instrument, geographische Gegebenheiten in ein statisches Produkt zu fassen. Sie dient als Orientierungsgrundlage für den menschlichen Gebrauch, d.h. sie ist für alle gleich definiert und nicht beliebig veränderbar. Soll sie verändert werden und Allgemeingültigkeit bewahren, muss es dafür zuerst einen Konsens geben. Insofern kann sie als politisches Werkzeug aufgefasst werden, auch im übertragenden Sinne, wenn beispielsweise für militärische oder behördliche Zwecke ein bestimmtes, eingegrenztes Gebiet kartographisch fixiert werden soll. Eine Karte ist also ein künstliches Konstrukt, um etwas zu strukturieren.
Ein Territorium hingegen ist etwas Subjektiveres, das nicht eindeutig skalierbar, auf einen Maßstab herunter zu brechen ist. Es wird entweder von Individuen abgegrenzt oder mehr oder minder wahllos von Autoritäten abgesteckt. Im letzteren Sinne hat das Wort auch eine politische Dimension: Unantastbare, nicht greifbare Territorien, wie diasporisch motivierte. Häufig überschreiten politische und geographische Linien Territorien. Die Grenzen sind somit nicht identisch. Viele dieser territorialen Grenzen beruhen auf Traditionen, es gelten teilweise Gewohnheitsrechte im juristischen Sinne, die eine selbstentwickelte Linie darstellen. Betrachtet man Territorialgrenzen als einen nicht beschriebenen Raum des Dazwischen, so ähneln sie einer Membran. Es entsteht eine erstarrte Bewegung, die nur durch eine vollständige Assimilation zu überqueren ist. Die Grenze ist hier also nicht nur ein Abstecken der geographischen Gebilde, sondern repräsentiert gleichzeitig einen Schutzwall, der leicht von innen nach außen zu durchbrechen ist, für den das Gegenteil manchmal aber nicht ohne Weiteres gilt. Darüber hinaus lässt sich das Territorium im Sinne der Fauna beschreiben: Im Tierreich gelten ursprünglich keine Regelmentierungen. Erst durch Markierungen und Austangieren haben sich Rechte, Pflichten und für natürlich Empfundenes herausgebildet. Was bleibt, ist der Lauf der Dinge ohne äußeren Eingriff und die darwinistische Botschaft des Survival of the Fittest.
Die Gegenüberstellung der beiden Begriffe verdeutlicht ihr ambigues Verhältnis. Ein Territorium lebt von seinen offenen, verschwommenen Grenzen und ist nie vollständig zu (er)fassen. Es ist tiefer als die Oberfläche einer Karte, weil eine Karte gewissermaßen nur die Spitze des Eisbergs darstellt, das Territorium jedoch viel weitreichendere Ausmaße annimmt. Macht und Strukturen liefern eine mehrdimensionale Ebene mit vielen Facetten und Bedeutungen des Territoriums. Handelt es sich streng genommen vielleicht sogar um eine radikale subversive Kollision von Mensch und Natur?
Der U-Bahn-Plan einer asiatischen Stadt stellt den Versuch dar, die Oberfläche von etwas Gewaltigem in bestimmter Weise zu fassen, indem die Realität zugeschnitten und anschließend isoliert in eine Form gepresst wird. Sobald der Rahmen und die relevanten Eckdaten (welche Öffentlichen Verkehrsmittel werden dargestellt? Bis zu welcher Stadtgrenze hin soll sich der Plan erstrecken, Innenstadt oder Peripherie?) feststehen, ist nichts Beliebiges zu ergänzen. Durch das Festlegen der Geo-Informationen ist bereits eine Vorauswahl getroffen worden, die einen manipulativen Charakter hat.
Anders verhält es sich mit der Abbildung des Sportplatzes. Dort ist mit dem festgesteckten Spielfeld zwar eine räumliche Begrenzung ähnlich der des U-Bahn-Plans gegeben, die Wege inmitten dieses Raumes sind allerdings variabel zu gestalten. Im Gegensatz zu den funktional-technisch definierten Bahnlinien, die nur die Entscheidung der Richtung oder des Umsteigeortes ermöglichen, sind die freien Bewegungen und Schwingungen auf dem Sportplatz in die Grafik integriert. Der U-Bahn-Plan hinterlässt die Assoziation eines Gefangen-Seins, wohingegen der Sportplatz Freiräume bietet, die selber gefüllt werden können, angefangen bei der Auswahl der Sportart. Die abgebildeten Linien symbolisieren kein stromlinienförmiges, geradliniges Netz, sondern suggerieren Chaos und Vivalität in Korrespondenz mit dem Fluss des Lebens. Zusätzlich beansprucht das mit der Grafik dargestellte Spiel Bedeutung über das Spiel hinaus: Gewinn, Ehre, Hierarchien. Es versinnbildlicht eine Form der gesellschaftlichen Kommunikation, die natürlich zustande kommt. Der maßstabsangespasste Plan der städtischen Verkehrsmittel ist hingegen eher eine wirtschaftliche Institution, die lenkend den Verkehrsfluss der Stadt leiten will. Impliziert diese Hypothese eine Bewertung darüber, welche der Kartengrafiken mehr Qualität und Potential für den menschlichen Alltag bieten, ob die gesellschaftliche oder die ökonomische Sichtweise auf die Dinge das Denken eines Menschen erklären lassen?
Die übermittelte Quintessenz der Grafiken könnte sein: Wir sollten nicht so vermessen sein, alles vermessen zu wollen. Und wenn doch, dann unter anderen Gesichtspunkten. Beispielsweise, indem wir uns der plakativen Botschaft des Diktums Die Karte ist nicht das Territorium bewusst machen. In surrealistischer Manier (Ceci n’est pas une pomme) liegt die Bedeutung stets im Verborgenen und das, was wir als das Ding an sich (den Apfel) kennen, ist in der Abbildung nur als Abbild, als flüchtig Vergangenes zu erkennen. Dennoch würden wir sagen: Auf dem Bild ist ein Apfel.
Nichts ist unbeschrieben, weil alles per se schon mit Bedeutung gefüllt ist. Die Kartenbetrachtung ist nie ein rein mechanischer Vorgang; sie aktiviert Verstand und Emotionalität, sie regt zu Interpretationen an. Um etwas beschreiben zu können, ist immer eine Abgrenzung zu einem Außen vonnöten. Dieses Außen wird durch den Betrachter automatisch rekapituliert und auf die Karte projiziert: 10 Augenpaare betrachten 10 unterschiedliche, subjektiv gefärbte Varianten ein- und derselben Karte.