Technologie braucht Intersektionalität
Wie wir unsere digitale Umwelt gerechter gestalten – und warum das wichtig ist
Stellen Sie sich vor, Sie leben in einer Welt, in der Sie permanent von Ausgrenzung und Diskriminierung betroffen sind; wo alltägliche Services und Dienstleistungen nicht auf Ihre Bedürfnisse abgestimmt sind und Sie permanent durchs Raster fallen. Stellen Sie sich vor, dass über Ihre Gesundheit, Ihr Wohlbefinden und Ihre Sicherheit immer Andere, Mächtigere entscheiden und Sie keine Möglichkeit haben, eigeninitiativ und selbstverantwortlich etwas daran zu ändern.
Das digitale Dilemma – oder: zwei Seiten derselben Medaille
Was nach einer Dystopie klingt, ist für viele Menschen tägliche Realität – nicht nur im analogen Raum, sondern immer häufiger auch im digitalen.
Als Tim Berners Lee vor 32 Jahren das Internet erfand, waren die Erwartungen groß und die Verheißungen eigentlich zu schön, um wahr zu sein. Das World Wide Web sollte die Welt verbinden und jedem Menschen ermöglichen, teilzuhaben an den schier unendlich scheinenden Möglichkeiten dieses neuen Mediums.
Drei Dekaden und viele technologische Entwicklungen später muss kritisch Bilanz gezogen werden. Ja, wir haben der Digitalisierung viel zu verdanken: sie hat zahlreiche Innovationen sowie die Entstehung eines globalisierten Systems (und damit Fortschritt und Wohlstand für viele) erst möglich gemacht; Systeme, die mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) riesige Datenmengen verarbeiten können und erfolgreich in der Landwirtschaft, in der Klimaforschung oder in der smarten Verkehrsplanung eingesetzt werden können; und auch wir als Endnutzer:innen profitieren von Algorithmen, die uns Musik vorschlagen, in die wir uns mit großer Sicherheit verlieben, oder uns den schnellsten Weg von A nach B verraten.
Aber die Digitalisierung und insbesondere die zunehmende Automatisierung von öffentlichen und privaten Infrastrukturen hat auch Schattenseiten, von denen uns aufgrund einschlägiger Berichterstattung einige bereits wohlbekannt sind: die Marktmacht von großen US-amerikanischen Tech-Konzernen, die lange weitestgehend unreguliert blieben; soziale Netzwerke, die zum Katalysator für Hate Speech und Demokratiefeindlichkeit geworden sind, weil spezielle Algorithmen gezielt solche Inhalte zeigen, die besonders polarisieren und damit für längeres Verweilen sorgen; KI-gestützte Systeme, die Schwarze Menschen nicht erkennen oder Jobbewerber:innen aufgrund ihres Geschlechts oder ihres Wohnortes von Vornherein aussortieren.
Technologien und Wir – im ständigen Wechselverhältnis
So sehr Tim Berners-Lee und seine Mitstreitenden auch von der Vision einer offenen und gerechten Gesellschaft angetrieben wurden, als sie das WWW entwickelten und damit den Grundstein für viele weitere Erfindungen im digitalen Raum schufen – was all diese Beispiele zeigen: Technologie ist nie neutral, sondern menschengemacht und damit auch nicht frei von den in der analogen Welt existierenden Vorurteilen und Ungerechtigkeiten.
Und wir Nutzer:innen sind Teil eines komplexen soziotechnischen Gefüges. Hinter jeder technischen Entwicklung stehen Menschen, die von Menschen generierte – oder besser gesagt: über Menschen gesammelte – Daten und Informationen in den Entwicklungsprozess einspeisen.
Das heißt, dass wir die analoge Welt in der digitalen abbilden, beziehungsweise meistens nur bestimmte Ausschnitte davon. In diesem unvollständigen, verzerrten Abbild sind dann die Datensets vieler Menschen nicht enthalten und diese Personen dann folglich nicht repräsentiert – was wiederum dazu führt, dass die entwickelte Technologie nicht für sie nutzbar ist oder sie schlichtweg in ihren Lebensrealitäten nicht berücksichtigt werden.
Auf diese Weise wird eine ausschließende, diskriminierende Kausalitätskette in Gang gesetzt, die sich nur schwer durchbrechen lässt. Somit reproduzieren wir allzu oft genau jene problematischen Verhältnisse, von denen wir uns mit fortschreitenden technischen Möglichkeiten zu befreien versuchen.
Hauptleidtragende dieses strukturellen Defekts sind Menschen, die bereits in der ‘echten’ Welt auf unterschiedliche Weise benachteiligt werden, wie z.B. Frauen*, Menschen aus der LGBTQ*-Community, Menschen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte, Behinderte oder Einkommensschwächere.
Gleichzeitig sind genau diese Gruppen unterdurchschnittlich häufig an der Entwicklung von Technologie beteiligt und arbeiten auch deutlich seltener in der boomenden, einflussreichen Tech-Branche – und das, obwohl sie überdurchschnittlich von potenziell negativen Folgen technologischer Systeme (s.o.) betroffen sind. An den Schalthebeln der Macht haben es sich homogene boys’ clubs gemütlich gemacht, die tradierte Machtstrukturen zementieren und unfaire Digitalpraktikten nach wie vor als “unparteiisch weil technisch” deklarieren.
Intersektionalität als Werkzeug für mehr Inklusion
Aber dieses Narrativ ist ins Wanken geraten und allmählich bröckelt die Fassade. Immer mehr Initiativen und Projekte fordern eine Gemeinwohlorientierung in der Technologieentwicklung, und sogar große Kapitalunternehmen haben die Bedeutung von diversen Teams erkannt (auch wenn sich über die Wahrhaftigkeit einiger lancierten Diversity-Kampagnen sicher streiten lässt). Klar ist: ein “Weiter so” kann es nicht geben. Aber was sind gute, erfolgsversprechende Alternativen? Was brauchen wir für die digitale Gesellschaft von morgen (oder am besten schon: ab heute!)?
Marginalisierte Gruppen in den gesamten Zyklus der Technologieentwicklung einzubinden, nützt allen. Es ist längst bewiesen, dass Konstellationen von Mitarbeitenden mit unterschiedlichen Merkmalen, Hintergründen und Fähigkeiten auch ökonomische Vorteile bieten: diverse Teams sind wirtschaftlich erfolgreicher. Eigentlich liegt es ja auf der Hand: wo viele verschiedene Menschen zusammenkommen, entsteht ein buntes Potpourri aus wertvollen Erfahrungen, Ideen, Blickwinkeln.
Zusammen gesetzt ergeben sie ein wahrhaft innovatives Neues – vorausgesetzt, all diese Perspektiven erhalten in basisdemokratischer Manier gleichberechtigt Gehör und Partizipationsmöglichkeiten.
Warum dieses kostbare Reservoir bislang so stiefmütterlich behandelt und nur selten angezapft worden ist, bleibt ein Rätsel. Denn das Rad muss nicht erst neu erfunden werden: viele gute Ansätze, Theorien und Praktiken, beispielsweise aus der feministischen Community oder von Disability-Forschenden und Aktivist:innen, widmen sich schon seit Langem drängenden Fragen an der Schnittstelle zwischen Technologie und Teilhabe – Wir müssen nur hinschauen und uns auf diese breite Vielfalt von Perspektiven stützen, wenn wir uns eine inklusivere digitale Gesellschaft wünschen.
Dabei kann uns die intersektionale Brille helfen.
Intersektionalität beschreibt die strukturelle Wirkweise von Macht und zeigt auf, wie sich verschiedene Formen von Diskriminierung gegenseitig verstärken. Der Begriff wurde 1989 von Kimberlé Crenshaw geprägt, die mit der Metapher der Kreuzung (“intersection”), an der sich die Wege der Macht kreuzen, die Verflechtungen sozialer Ungleichheiten veranschaulichen wollte. Theoretikerinnen wie Catherine D’Ignazio und Lauren Klein (“Data Feminism”) oder Raja Benjamin (“Race after Technology”) haben Crenshaw’s Ideen aufgegriffen und weiterentwickelt. Gemeinsam machen sie sich dafür stark, bis dato unhinterfragte Annahmen, die den Technologen zugrunde liegen, zu hinterfragen.
Mithilfe intersektionaler Zugriffe auf Technologie lassen sich eingestaubte Denkmuster überwinden und bislang nur unzureichend beteiligte Gruppen in die weitere Ausgestaltung unser technologisierten Umwelt einbeziehen.
Damit empowern wir nicht nur deren jeweilige Community, sondern uns als Gesamtgesellschaft: denn für einen solch großen Wandlungs- und Transformationsprozess, wie die Digitalisierung ihn in Gang gesetzt hat, brauchen wir alle.
Jede Stimme und jeder Datensatz zählt.