Daniela Caixeta Menezes

Auf Terrassen gebaut

Zu Gast im Bergdorf Stilfs, das als strukturschwach gilt – und sich mit Hilfe der EU neu erfinden will

Cover Image for Auf Terrassen gebaut

Das 400-Einwohner-Dorf Stilfs im Südtiroler Ortlergebiet hat sich im Rahmen des nationalen Plans zur Aufwertung historischer Ortschaften in Italien 20 Mio. € gesichert. Gemeinsam mit 20 weiteren Orten italienweit soll sich das kleine Bergdorf regenerieren und zu einem Exempel für die umliegende Region werden. Was für die einen der Beginn von etwas Neuem darstellt, ist für die anderen ein Projekt ohne Nachhaltigkeit. Ich bin für Kulturelemente in das urige Bergdorf am Fuße des Ortler gereist und habe Eindrücke gesammelt.

Wer das Dorf der Zukunft sehen will, muss von Meran kommend den Vinschgau beinahe ganz durchqueren – und dann hoch hinauf. Noch während sich das Auto die schmale, von schneebedeckten Wiesen umsäumte Straße empor kämpft, tauchen bald die ersten Zeichen der Zivilisation auf, eine Pension, eine Zimmerei, und dann endlich das Ortseingangsschild: Stilfs, Stelvio. Und weil die schweizerische Grenze nicht weit ist, gibt es sogar einen eigenen rätoromanischen Namen, Stielva.

Man könnte auch „die Auserwählte“ sagen, denn das Dorf ist das einzige in Südtirol und eins von nur 21 Italien-weit, die begehrte Gelder aus dem EU-Aufbaufonds erhalten — weil sie als strukturschwach gelten und ehrgeizige Pläne dafür vorgelegt haben, wie sie das ändern wollen. 20 Millionen über 4 Jahre, um sich neu zu erfinden: ein Mammutprojekt für das kleine Bergdorf, das zwar in der Nähe des gleichnamigen Fernpasses, aber etwas abseits im Schatten der beliebten Skidestinationen Sulden und Trafoi liegt.

Was also zeichnet dich aus, Stilfs?

Hinter der nächsten Kurve wird auf der gegenüberliegenden Hangseite der Hauptteil der 1.135-Seelen-Gemeinde sichtbar, die im 15. Jahrhundert von am Ortler nach Eisenerz schürfenden Bergknappen angelegt wurde und dadurch zunächst zu Wohlstand gelangte – und heute mit Abwanderung zu kämpfen hat. Ein bisschen erinnert die Art und Weise, wie sich die Häuser terrassenförmig an den Hang drängeln, an asiatische Reisfelder, oder an die Cinque Terre. Nur ohne Reis. Und ohne Meer.

Dafür thront am oberen Ende in 1.300 Meter Höhe eine Kirche, und weil Kirchplätze immer das Zentrum, das pulsierende Herz eines Ortes markieren, ist das doch ein gutes erstes Etappenziel.

Auf dem Weg dahin pulsiert erst einmal nichts, alles scheint ausgestorben in diesem Dorf. Das Sträßchen wird immer enger, bis es vor der Pfarrkirche St. Ulrich in eine Sackgasse mündet. Neben dem Eingang des Gotteshauses ein winziger Friedhof mit Panoramablick aufs Suldental mit Suldenbach, darüber die Riesen Munwarter und Chavalatsch, dessen Gipfelkreuz Südtirol von Graubünden trennt: Hier lässt es sich in Frieden ruhen.

Plötzlich kommt in irrem Tempo ein Fiat mit auf dem Dach festgeschnallten Skiern angesaust. Ein sehr alter Mann springt heraus, stürmt in die Kirche, kommt nach wenigen Sekunden wieder heraus und brettert davon. Skifahren mit göttlichem Segen.

Die eigentümliche Szene hat von der klirrenden Januarkälte an diesem Samstagmorgen abgelenkt. Der gesamte Ort liegt zu dieser Zeit noch im Schatten, doch der Vorbote der Sonne — das gleichnamige Hotel nebenan — lädt zum Aufwärmen ein. Und wo sonst lässt sich mehr über das Dorf erfahren, als in der gemütlichen Stube, in der ein Dutzend Männer bei Wein und Bier zusammensitzen und eine Partie Karten spielen? Hier pulsiert es also, des Dorfes Herz!

Es folgt eine überraschte („Was treibt euch hierher?“), aber überschwängliche Begrüßung.

Wie lebt‘s sich denn hier so?

Ach, wie schon?! Immer gleich, ruhig, ohne Hektik, sagt einer von ihnen, und die anderen nicken. Aber das Dorf ist kleiner geworden und jeder muss schauen, dass er über die Runden kommt, ergänzt der Sitznachbar.

Da kommen die 20 Millionen doch gerade recht? Ideen gibt es ja genug: ein Dienstleistungszentrum, Co-Working-Räume, ein Kunstfestival, ...

Verlegenes Geraune, jemand lacht. Nein, an Ideen mangele es tatsächlich nicht; das Ganze sei aber schwierig umzusetzen. Außerdem: Kultur ist schön, aber was ist mit einem Wendeplatz? Erstmal muss das Nötigste her, darin stimmen sie alle hier überein.
Doch am besten unterhalte man sich darüber mal mit dem Roland.

Roland wer?

Und weil Stilfs eben ein Dorf ist, läuft Roland Angerer just in diesem Moment an der Sonne vorbei. Ein Stilfser durch und durch, einer, der sich für sein Dorf engagiert. Pensionierter Pädagoge, langjähriges Gemeinderatsmitglied. Auch beim EU-Projekt war er ab Stunde 0 mit von der Partie und knüpft dort an die Visionen vom kürzlich verstorbenen Vordenker und Mitbegründer der Bürgergenossenschaft Obervinschgau, Armin Bernhard, an.

Der Fonds, so sagt Roland bei einem Espresso, sei nur Katapult. Gewiss, eine große Chance fürs Dorf. Aber Geld, Wünsche und Visionen allein reichten nicht. Aufs große Ganze käme es an. Wie in einem Ensemble, für das es jedes einzelnen Instruments bedürfe, um ein Konzert zu spielen.

Roland, der Stilfser Dirigent, der sich einen nachhaltigen Strukturwandel wünscht, vor allem beim Thema Wohnen und in der Landwirtschaft: mehr ansässige Familien, weniger Zweitwohnungen; gesunde Äcker und Wiesen, auf denen einheimisches Saatgut zum Einsatz kommt, anstatt intensiv (und im schlimmsten Fall: invasiv) bestellt zu werden.

Wieder zustimmendes Nicken. Ein überzeugendes Plädoyer. Gläser werden nachgefüllt, und jetzt klettert auch die echte Sonne über den Hang und strahlt durch die Fenster der Gaststube, ihrer Namensvetterin. Dahinter steht er in seinem vollen Glanze: der König Ortler, welch ein majestätischer Anblick.

Mit der Sonne kommen auch die Stilfser nach draußen und in die Gassen des Terrassendorfes, die so steil sind, dass – einem Sprichwort zufolge – sogar die Hennen mit Steigeisen unterwegs sind. Ein Bauer, dessen Kuhstall mit Heuschober direkt an der Dorfstraße mitten im Ortskern liegt; ein Ureinwohner, der eine Zigarette rauchend, fröhlich schnalzend verkündet, dass er sich schon auf den lauten Touristen-Reigen im Februar freut; und dann endlich auch ein junges Gesicht, das im Vorbeigehen etwas schüchtern lächelt — es gibt sie also wahrhaftig hier, die jungen Menschen.

Aushänge und Plakate verstärken den Eindruck eines doch recht lebendigen Stilfs: Yogastunden (“Gesundheit, Ästhetik, Bewusstheit”), ein Männerkochkurs (“Männer, lasst uns gemeinsam die Kochlöffel schwingen!”), ein Chill House (“Freiräume für junge Menschen”). Ganz schön was los!

Vor der Feuerwehr eine ältere Dame mit Gehstock, in ihrer Freundlichkeit steht sie den bereits bekannten männlichen Dorfbewohnern in Nichts nach. Paula, die alteingesessene Stilfserin, hat aber schon viel von der Welt gesehen, wie sie betont. Griechenland, Spanien, sogar auf einer deutschen Hallig war sie schon!

Aber hier ginge es allen gut, sie lebe gerne hier, verkündet sie, und es klingt ein wenig nach Schwyzerdütsch. Ahja, rätoromanisch.
Paula erzählt und erzählt, über ihr Aufwachsen und die eigenen Kinder, das Schulsystem, Georgia Meloni. Und von der vierköpfigen Berliner Familie, die seit Kurzem hier wohne.
Da staunt die Autorin nicht schlecht, und die Fünfundachtzigjährige grinst.

Stilfs — steil und stolz, wie Roland seine Heimat in Anlehnung an eine Doku bei Servus TV bezeichnet. Die waren nämlich auch schon hier: im Dorf der Zukunft.

---------------------------------------------------------------------------

Dieser Text ist in Ausgabe #170 von Kulturelemente – Zeitschrift für Kultur und aktuelle Fragen und als Podcastfolge auf Spotify erschienen.