Daniela Caixeta Menezes

Spuren

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Der Schneefall setzte ganz plötzlich ein und verwandelte sich innerhalb kürzester Zeit in einen tosenden Sturm, der an den Bäumen rüttelte und alles unter einer weißen Schicht begrub.

Zunächst ging sie munter weiter und nahm diese unvermittelte Wetterkapriole als verstecktes Zeichen: Da saß ihr Vater also frohlockend zwischen den Wolken und pustete kleine zarte Flöckchen zu ihr herunter, die die Welt in ein Puderzucker-Kleid hüllten. Sie sah ihn regelrecht vor ihrem inneren Auge. Wie er inmitten eines Schneemeeres vor dem Haus steht und triumphierend die Schippe in die Höhe hält. Seine Wangen sind von der Kälte leicht gerötet. Er lacht und das Lachen schallt zu ihr herüber, sodass sie ihre Schuhe noch schneller anzieht, weil sie es gar nicht erwarten kann, zu ihm zu rennen.

Bei dem Gedanken an ihn und sein verschmitztes Lächeln wurde ihr warm ums Herz. Entschlossen behielt sie ihr Tempo bei und setzte tapfer einen Fuß vor den anderen, bis sie bald nur noch stapfen konnte. Als der Wind immer stärker wurde und ihr den feinen Schnee ins Gesicht fegte, war ihr zum ersten Mal mulmig zumute.

An einer unbeschilderten Wegkreuzung blieb sie schließlich stehen, unschlüssig, welche Richtung sie zu ihrem Ziel führen würde.

Müsste sie nicht längst da sein?

Erst jetzt merkte sie, wie erschöpft sie war. Ihre Beine fühlten sich unendlich schwer an. Doch weit und breit war keine Bank, geschweige denn ein Zeichen menschlicher Zivilisation zu erkennen. Panik wallte in ihr auf.

Sie ermahnte sich, Ruhe zu bewahren. So wie sie es von ihrem Vater, dem passionierten Wanderer, gelernt hatte. Tief durchatmen, keine überhasteten Schritte. Das hatte er ihr immer wieder eingebläut. Ganz bestimmt hätte er gewusst, was zu tun gewesen sei in solch einer Situation.

Aber ihr Vater war nicht da und auch niemand anderes. Sie war vollkommen auf sich allein gestellt.

Ein kalter Schauer lief ihr über den von der Anstrengung schwitzigen Rücken. Sie zwang sich, einen tiefen Atemzug zu nehmen und bahnte sich dann ihren Weg zu einem großen Baum. Schau mal, Papa, eine Lärche, rief sie ins Schneegestöber hinein, wie um sich selbst Mut zu machen, lehnte sich an den dicken Stamm und ließ die Arme schlaff neben dem Körper hängen.

Jetzt, wo sie nicht mehr in Bewegung war, spürte sie ihre nassen Socken und ärgerte sich, nicht die festen Bergschuhe angezogen zu haben. Und die warme Leggins. Handschuhe und Stirnband lagen ebenso auf der Rückbank ihres kleinen Autos, das nun meilenweit entfernt zu sein schien. Sie hätte nicht einmal sagen können, in welche Himmelsrichtung sie hätte laufen müssen, um dahin zurückzukehren. Alles um sie herum war weiß, die Bäume, der Himmel, die Luft. Es schneite noch immer unaufhörlich und der Wald ertrank in dicken Nebelschwaden, die durch sein Geäst waberten.

Dabei war der Himmel nahezu wolkenlos gewesen, als sie aufgebrochen war, um auf den Spuren ihres Vaters zu wandeln. Auf ihren gemeinsamen Spuren. Wie beflügelt war sie förmlich los gerannt, weil sie es gar nicht hatte abwarten können, bei der urigen Alm mit der gemütlichen Stube einzukehren, wo sie selbstgemachte Apfelschorle getrunken und Knödeltris gegessen hatten. Das weltbeste Knödeltris, darüber waren ihr Vater und sie sich einig gewesen, zum Wohle, darauf wird angestoßen, und dann hatte der Wirt sogar noch sein Akkordeon ausgepackt. Mit vollen Mägen und hellem Gemüt waren sie den von herrlichen Lärchen gesäumten Wanderweg zurück gestiefelt, während ihnen die schönste Herbstsonne ins Gesicht geschienen hatte.

Papa in seiner knielangen, dunkelblaue Cordhose, dazu ein kariertes Flanellhemd und natürlich der grüne Hut mit der Feder.

Wehmütig zog sie ihr Handy aus der Hosentasche, auf dem sie das Foto dieses Tages gespeichert hatte. Aber das Display war schwarz. Nervös drückte sie auf den Einschaltknopf, erst kurz, dann länger, aber was sie auch tat: das Telefon ging nicht mehr an.

Unter der Jacke spürte sie, wie ihr Herz zu rasen begann und sich in ihrer Magengrube ein krampfender Schmerz ausbreitete. Es fühlte sich an, als würde jemand ihre Taille zusammenpressen und nicht mehr loslassen, sodass sie sich vor Schmerz krümmte.

Aber sie wusste, dass sie sich bewegen musste, wenn sie nicht zu Eis erstarren wollte. Sie würde einfach umkehren und denselben Weg zurückgehen.

Sie hob erst ihr linkes Bein aus dem inzwischen kniehohen Schnee und dann das rechte. Aber ihre Fußstapfen waren bereits zugeweht, sodass sie nicht erkennen konnte, wo sie hergekommen war. Es umgab sie nichts als Schnee und Totenstille.

Sie schluckte schwer und kämpfte mit den Tränen. Sie musste wieder an ihren Vater und seine Worte denken, Ruhe bewahren, tief ein- und ausatmen, aber die Verzweiflung schnürte ihr die Kehle zu.

Und dann sah sie ihn, einen großen schwarzen Hund, der direkt vor ihrem Gesicht auftauchte und aus der weißen Masse hervorstach wie eine Fata Morgana. War ihr die Kälte zu Kopf gestiegen und gaukelte ihr die Existenz dieses Tieres nur vor? Ungläubig rieb sie sich die Augen, ein Mal, ein zweites Mal. Vorsichtig streckte sie die Hand nach dem Hund aus, der jetzt freudig mit dem Schwanz wedelte und sie aus großen Knopfaugen anschaute. Als seine Zunge über ihre nackte, eisige Hand schleckte, stieß sie einen erleichterten Seufzer aus: Es war tatsächlich ein Hund, ein wahrhaftiger Hund. Noch nie hatte sie sich derart über die Anwesenheit eines Tieres gefreut, weshalb sie sich jetzt bückte, um mit beiden Händen durch sein langes Fell zu streicheln und ihre verfrorene Nase darin zu vergraben. Die Nähe des Tieres beruhigte sie und ließ sie wieder ruhiger atmen.

Doch dann sprang der Hund plötzlich auf, schüttelte sich den Schnee vom kleinen Körper und war im nächsten Moment im Nebel verschwunden. Sie wollte schreien, ihn bitten, zu bleiben, aber ihre Kehle formte nur einen krächzenden Laut. Stumm stolperte sie dem Vierbeiner hinterher, ohne ihn zu sehen, aber sie hörte ihn bellen und sein Bellen wurde zu ihrem Kompass. Wie mechanisch lief sie in die Richtung, wo sie ihn vermutete, immer weiter durch die eingeschneite Welt. Hin und wieder blitzte etwas Schwarzes zwischen den weißen Büschen hervor, was sie hoffen ließ.

Nur Mut, nur Mut, hörte sie ihren Vater flüstern.

Sie spürte, wie das Adrenalin in ihren Körper schoss, bevor sie wieder die Umrisse ihres vierbeinigen Freundes erkennen konnte. Aufgeregt sprang er an ihr hoch und tänzelte vergnügt um sie herum.

Im nächsten Moment riss der Himmel auf und sie sah, dass sie angekommen war. Die letzten Meter flog sie regelrecht über den Schnee und als sie durch die Fensterscheibe in die gemütliche Stube blickte, fühlte sie sich ihrem Vater so nah, als würde er direkt neben ihr stehen.