sprachlos
Sie haben ein großes, sperriges Wort dafür. Sie haben große, sperrige Worte für alles, aber dieses eine klingt für meine Ohren besonders sperrig: Willkommenskultur.
Sie schreiben es auf Plakate und Broschüren, mit denen sie mich überhäufen; sie nutzen dieses Wort, wenn sie mir erklären, wie ich eine von ihnen werde, Integration nennen sie das, noch so ein großes Wort.
Am besten, sagen sie – und dabei haben sie ein Lächeln auf dem Gesicht – am besten schaust du es dir von den anderen ab, guckst genau hin, wie sie dieses und jenes machen. Dann weißt du, dass es recht ist, dann fällst du nicht auf.
In der Masse untergehen, das raten sie mir, auch wenn sie das so nicht sagen würden, sie verwenden viele große, sperrige Worte, die ich nicht verstehen kann.
Herzlich willkommen bei uns, rufen sie und schütteln meine Hand, herzlich willkommen, und ich möchte es ihnen glauben: dass sie es ernst meinen mit ihrer Herzlichkeit und dem Willkommensein.
Schon dem Kind zuliebe, das ruhig in seinem Kinderwagen liegt, als wisse es, dass es hier um alles geht. Keinen Ton gibt es von sich, was gar nicht typisch ist für mein Kind, weshalb ich ängstlich das Verdeck nach hinten schiebe, um nachzusehen, ob es noch atmet, mein Kind.
Aus großen Augen schaut es mich an, ich spiegele mich darin, mich und meine Ängste, streichele dem kleinen Wesen über die Wange, zart und warm und weich. Für einen Moment verliere ich mich in den kleinen Kinderaugen, die weit aufgerissen sind, sie beunruhigen mich, ein gesundes und glückliches Kind ist nicht stumm wie dieses, schaut mich nicht aus solchen Augen an.
Ich will etwas Beruhigendes sagen, finde nicht die richtigen Worte, weder für das Baby noch für mich. Mein Kopf ist voll mit den großen, sperrigen Worten der anderen, die meine eigenen verdrängen. Es gibt keinen Platz mehr für meine Worte, meine Sprache versiegt, ich darf sie hier nicht nutzen – wegen der Integration, sagen sie, das sei besser für das Kind, in ihrer Sprache und in ihren sperrigen Worten sagen sie mir, was gut ist für mein Kind.
Ich verstehe sie nicht, die Menschen und ihre Worte, nur vereinzelte Silben, Bruchstücke, die ich für mich zusammensetze wie einen zersprungenen Krug.
Meine Sprache versiegt, ich spreche sie nur heimlich, mit meinem Kind, wenn niemand in der Nähe ist, meine Lippen formen Lieder und Gedichte, an die ich mich erinnere, von meiner Mutter habe ich sie gelernt. Sie kommen über meine Lippen wie geheime Botschaften, ich bin überrascht, wie gut ich mich an sie erinnern kann, wo es doch schon so lange her ist, dass ich sie zum letzten Mal gehört habe.
Ihr Klang macht mein Kind fröhlich, es quiekt und lacht und klatscht in die Hände, meine Stimme hat die Melodie von Heimat, ich bin glücklich, das kleine Wesen ist glücklich. Ein unsichtbares Band verbindet uns mit diesem Ort, den mein Kind nicht kennt, vielleicht niemals kennenlernen wird, den auch ich vielleicht nie mehr betreten werde. Das Band, es ist das Letzte, das uns geblieben ist, doch es muss unser Geheimnis bleiben, zwischen meinem Kind und mir.
Ich flüstere, damit keiner von unserem Geheimnis erfährt, das kleine Baby spitzt die Ohren wie ein Hasenjunges, strahlt seine Mutter an, wippt mit dem kleinen Kopf, sodass der ganze Oberkörper in Bewegung kommt.
Doch heute strahlt und wippt und quiekt mein Kind nicht, sondern starrt mich aus großen Augen an, unruhig, erschrocken vielleicht. Schschsch, mache ich, ein süßes Kind, sagen sie und beugen ihre Köpfe tief über den Kinderwagen, den sie mir gegeben haben, und so schön ruhig und lieb, sagen sie noch. Sie kennen mein Kind nicht anders, es gefällt ihnen so, ruhig und lieb, mit den großen Augen, die mich ängstlich werden lassen.
Auch dieses Mal geben sie mir Broschüren mit vielen großen und sperrigen Worten, sie haben nicht viel Zeit, in den Broschüren kann ich alles nachlesen, sagen sie, lächelnd, ob ich noch Fragen habe, wollen sie wissen, da haben sie sich bereits aus ihrem Stuhl erhoben. Meine Zunge möchte ihre Worte formen, doch die Vokale bleiben am Gaumen kleben, vor Aufregung spüre ich, wie sich mein Puls beschleunigt, ich heftiger zu atmen beginne.
Ich erhebe mich, ein Nicken statt sperriger Worte, so verstehen wir uns, sie und ich, universelle Gesten gegen die Sprachlosigkeit. Erschöpft schiebe ich den Kinderwagen, ihren Kinderwagen mit meinem Kind darin, auf die Straße. Sie ermatten, die sperrigen Worte, nehmen mir jegliche Kraft und Energie; dabei brauche ich viel davon, für alles, was mit ihrem Leben zu tun hat, welches auch meins werden soll. Integration. Willkommenskultur.
Draußen ist es grell, die Juni-Sonne brennt erbarmungslos auf uns herab. Ich ziehe das Tuch über die Haare bis in die Stirn, justiere das Verdeck des Kinderwagens, will das Baby, das plötzlich schreit, vor der Hitze schützen.
Passanten kommen uns entgegen, sie schauen mich an, schauen etwas zu lang, ihr Blick ruht auf mir, starren sie? Als ich zurück starre, wenden sie sich ab, geniert. Nein, nicht geniert, ertappt, aber nicht peinlich berührt; wieso auch, denken sie wohl, gucken darf man wohl doch noch.
Mein Baby schreit wie am Spieß, ich hebe es hoch, drücke es an die Brust und streiche über den feinen Flaum am Scheitel.
Mit meinem Kind auf dem Arm wippe ich den Bürgersteig entlang, summe vor mich hin, vom Wippen und Summen fühle ich mich leichter, ich schwebe jetzt beinahe über die Pflastersteine, die akkurat gepflasterten Steine. Ich muss daran denken, wie sie mich regelrecht in den Bann gezogen haben, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Die Art, wie sie ordentlich dort aneinandergereiht worden sind, keiner steht hoch, keiner tanzt aus der Reihe. Jeder bleibt an seinem ihm angestammten Platz, jahrelang, ohne dass sich daran je etwas ändern würde. Manchmal werden sie geputzt, dann kommt ein kleines Gefährt und bespritzt den Bürgersteig mit Wasser, damit er wieder sauber ist, obwohl ich ihn eigentlich noch nie schmutzig gesehen habe.
Ich schwebe über den immer sauberen Bürgersteig, mein Kind fest an mich gepresst, bis mir zu warm wird und ich nach Schatten suche. Ganz in der Nähe erspähe ich einen dicken Baum, es ist eine Pinie, ich liebe Pinien, sie erinnern mich an den Wald meiner Kindheit, ohne dass ich weiß, warum; bei uns gibt es keine Pinien und im Wald meiner Kindheit wachsen andere Bäume, deren Namen ich nicht kenne, doch Pinien sind es sicher nicht.
Unter dem Baum steht eine Bank, ich setze mich und endlich hört mein Baby auf zu weinen. Erst jetzt merke ich, wie müde ich bin, müde und erschöpft. Doch es ist noch zu früh, um müde zu sein, ihre Welt erlaubt keine Müdigkeit.
Die Broschüren liegen auf der Decke im Kinderwagen, das Titelbild zeigt eine Frau und ein kleines Kind, die mich anblicken, sie schauen direkt in die Kamera, während eine andere Frau der Frau mit dem Kind lächelnd eine Broschüre überreicht. Eine Welt voller Broschüren und lächelnder Menschen, die einem Broschüren mit sperrigen Worten in die Hand drücken, in denen zu lesen ist, wie ihre Welt funktioniert, wie alles funktioniert, das mit der Willkommenskultur zum Beispiel. Ich muss lächeln, die Frau und das Kind sehen aus wie wir, wie mein Baby und ich, nur dass das Kind aus der Broschüre etwas älter ist. Bestimmt hat es bereits gelernt, wie alles funktioniert, versteht ihre sperrigen Worte, fühlt sich hier Zuhause.
Ein Bus fährt vorbei, er hält nicht an, dabei würde ich gern mitfahren, unser nächstes Etappenziel ist weit entfernt, am anderen Ende der Stadt, viel zu weit, um zu laufen und meinem Baby ist zu warm, aber der Bus fährt einfach weiter, an uns vorbei, als wären wir unsichtbar. Eine Frau und ein Kinderwagen, unsichtbar.
Dann fällt mir wieder ein, wie ihre Welt funktioniert, ich habe den Arm nicht rausgestreckt. Arm rausstrecken, zur Vordertür gehen, schnell, damit sie nicht auf mich warten müssen, ich renne, schiebe den Kinderwagen vor mir her, dann: mit der schweren Zunge sperrige Wörter formen, eine Fahrt, bitte, Münzen zur Hand haben. Der Kinderwagen passt nicht durch den Gang, in Windeseile haste ich zurück zur zweiten Tür, alle Augenpaare kleben an der Scheibe, begutachten mich, wie ich den Wagen den Bordstein hochziehe und in den Bus. Das Gesicht des Busfahrers taucht im Rückspiegel auf, es verzieht keine Miene, die Türen schließen und wir sausen los.
Instinktiv stelle ich mich vor den Kinderwagen, halte den Griff fest umklammert, wage nicht, mich hinzusetzen, um mein Kind vor abrupten Manövern des Busses zu schützen, bremsen, beschleunigen, anhalten. Ihre Blicke fixieren mich noch immer, der Bus ist nur zur Hälfte gefüllt, aber sie sitzen auf den Außenplätzen, hier ist besetzt, würden sie wohl sagen, wenn ich dort sitzen wollte. Doch ich spreche ihre sperrige Sprache nicht, also bleibe ich stehen.
Die Stadt fliegt an uns vorbei, immer wieder hält der Bus, Menschen steigen aus und andere ein, das Gesicht des Busfahrers im Rückspiegel, dann fahren wir weiter. Ich bin jetzt nicht mehr die Einzige, die steht, ein Mann steht vor mir im Gang, er versperrt die Sicht, ich kann nicht sehen, wo wir sind, weil er die kleine leuchtende Anzeige verdeckt. Wir fahren eine scharfe Kurve, ich versuche, einen Blick auf die Anzeige zu erhaschen, aber ich stolpere, kann mich gerade noch an einem Griff festhalten.
Eine Kirche kommt in mein Sichtfeld, wir sind da, weiß ich, hier müssen wir aussteigen. Stopp, will ich rufen, verhaspel mich, verstumme, probiere es nicht wieder, die sperrigen Worte stecken in der Kehle fest. Eine junge Frau erhebt sich aus ihrem Sitz, sie will auch aussteigen, jubiliere ich, sie auch, ich löse die Bremse am Kinderwagen, der Bus hält und ich hieve uns wieder ins Freie, den Kinderwagen, mein Baby und mich.