Schwarz und weiß
Ein Tag im Leben der trabalhadores domesticos

Die Frau, die hier für Ordnung sorgt und den Überblick behält, ist überraschend klein, ihre Statur schmächtig. Schnell eilt man zur Hilfe, will ihr den großen Wäschekorb abnehmen. Aber das lässt Elaine nicht zu und wendet sich rasch ab, um weitere Vorstöße zu unterbinden. Dazu gibt sie einen glucksenden Laut von sich. Es klingt fröhlich und echt und tröstet ein bisschen hinweg über das schlechte Gewissen, das sich in diesem Moment unweigerlich einstellt, das während der Recherche für diese Reportage immer wieder aufkommen wird. Nicht weil man etwas getan hat, das es später zu bereuen gilt. Vielmehr ist da immer das Gefühl von Scham, etwas gerade nicht zu tun – was aus gleich mehreren Gesichtspunkten vielleicht angebracht wäre – und stattdessen alles einfach so hinzunehmen, wie es ist. Macht man sich dadurch nicht bereits mitschuldig? Wo fängt Verantwortung an, wo hört sie auf?
Elaine ist eine junge Brasilianerin, dunkle Haut, schwarze Haare, verheiratet, aber kinderlos. Zum Schutz ihrer Privatsphäre werden sie und alle weiteren Gesprächspartner nur beim Vornamen genannt, auch wenn sie der Veröffentlichung ausdrücklich zugestimmt haben.
Von Beruf ist Elaine Hausangestellte. Fünf Tage die Woche stemmt die Dreißigjährige einen fremden Haushalt: kauft ein, kocht, backt, wäscht Wäsche, spült, putzt, geht mit dem Hund Gassi. Seit fast 15 Jahren macht sie das schon, seit dem Tag, an dem sie 16 geworden ist.
So lange sei sie auch schon bei Senhor Flávio angestellt und gewissermaßen zeitgleich mit ihm in dieser Wohnung angekommen, erzählt die junge Frau, während sie mit flinken Handgriffen den Inhalt des Korbes auf verschiedene Wannen verteilt, die auf dem Boden der Waschküche bereitstehen. Die rund 80 Quadratmeter große Eigentumswohnung liegt in einem wohlhabenden Bezirk von Belo Horizonte, einer wirtschaftlich florierenden 5-Millionen-Stadt im Südosten Brasiliens, gut sechs Autostunden von Rio de Janeiro und São Paulo entfernt. Ihre Ausstattung ist von gehobener Qualität, doch nicht luxuriös, vier Zimmer, zwei Bäder, eine große Küche, von der die geräumige Waschküche abgeht, in der Elaine jetzt die erste Maschine Wäsche startet.
Flávio ist 78 Jahre alt und Jurist. Nach dem Studium hat er lange als Beamter für das brasilianische Finanzamt gearbeitet und sich später selbstständig gemacht. Ein klassischer Werdegang für jemanden wie ihn: einen weißen Brasilianer aus der oberen Mittelschicht. Seine Hautfarbe wird in diesem Text eine zentrale Rolle spielen.
Doch nicht nur hier. Die brasilianische Gesellschaft als Ganzes ist stark von Ungleichheit geprägt, die sich insbesondere entlang der Hautfarbe manifestiert.
Einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation ILO aus dem Jahr 2016 zufolge sind 71% der brasilienweit 6,2 Millionen trabalhadores domésticos, der Hausangestellten, negros – Farbige; nur acht Prozent von ihnen sind männlich. Der größte Teil der haushaltsnahen Arbeiten wird demnach von Schwarzen Frauen geleistet. Von Frauen wie Elaine und ihrer Schwester, denen die Berufswahl gewissermaßen mit in die Wiege gelegt wurde: ihre Mutter und vor ihr auch schon deren Mutter waren ebenfalls als Haushaltshilfen tätig – und das vermutlich unter deutlich schlechteren Bedingungen.
Denn erst seit 2013 gelten für Hausangestellte dieselben Rechte wie für jeden anderen Berufszweig: Unfallschutz, Verbot der Kinderarbeit, Überstundenausgleich. Zumindest auf dem Papier. Tatsächlich werden aber noch immer viele Brasilianerinnen und Brasilianer illegal beschäftigt, also ohne Vertrag und offizielle Anmeldung; lediglich 32% aller Arbeiterinnen und Arbeiter sind behördlich registriert, so ILO.
Auch in Elaines Nachbarschaft gibt es viele dieser jornaleiros – Tagelöhner, die mal auf dem Bau, mal im Transportwesen aushelfen, manchmal aber auch wochenlang gar keine Arbeit finden.
Für den brasilianischen Staat existieren diese Beschäftigten nicht, ergo kann er ihnen auch keinen Schutz bieten; Schutz vor Gewalt und Missbrauch zum Beispiel, oder davor, willkürlich entlassen zu werden und keinen Lohn zu erhalten.
Dann helfe man sich gegenseitig aus, erklärt Elaine.
“Ich bin einer der Wenigen mit einer festen Anstellung, ich habe Glück gehabt. Also ist es meine Pflicht, mich um andere zu kümmern.”
Sie sagt es ganz ohne Pathos in der Stimme und ist bereits mit der Vorbereitung des Mittagessens beschäftigt: Reis und schwarze Bohnen, keine brasilianische Mahlzeit kommt ohne diese beiden Grundnahrungsmittel aus.
Doch auch ein Vertrag bringt noch kein Brot auf den Tisch und bezahlt auch nicht den Bus zur Arbeit. Zwar hat die Regierung unter Präsident Lula Anfang dieses Jahres den gesetzlichen Mindestlohn auf 1.212,00 Reais (ca. 190,58 Euro) erhöht. Wer aber schon mal in einem brasilianischen Supermarkt eingekauft hat, weiß: große Sprünge, zum Beispiel eine vielseitige und gesunde Ernährung, sind damit nicht möglich, selbst wenn das Sortiment in den Vorstadt-Supermärkten ein etwas anderes sein mag.
Entsprechend leben viele der trabalhadores domésticos unter Umständen, die sich zweifelsohne als prekär bezeichnen lassen: in ärmlichen Wohngegenden fernab der Innenstadt, den sogenannten Favelas – ungenehmigten und provisorischen Siedlungen, die oftmals waghalsig an den Hang gebaut wurden und nur dank eigener DIY-Initiative über Strom und Wasser verfügen. Wer hier wohnt und wie Elaine im wohlhabenden Teil von Belo Horizonte arbeitet, verbringt vier Stunden des Tages in Bus und Bahn: morgens zwei hin und abends wieder zurück – wenn es gut läuft, was im hoffnungslos verstopften Stadtverkehr an eine Seltenheit grenzt.
Um pünktlich um 8 Uhr das Frühstück servieren zu können, muss Elaine sich bereits vor 6 Uhr auf den Weg machen. Unabhängig davon, wie sie sich an diesem Morgen fühlt oder was vielleicht an privaten Dingen zu tun ist.
„In all den Jahren bin ich nicht ein einziges Mal nicht zur Arbeit erschienen”, sagt sie und man hört den Stolz in ihrer Stimme.
Da ist es wieder: das schlechte Gewissen. Etwas hilflos steht man vor der etwa gleichaltrigen Frau, Welten trennen uns – die Welt der Autorin: die der Privilegien, der Freiheiten und Möglichkeiten; Elaines Welt, anspruchslos und bescheiden, in der es sie stolz macht, sich nie krank gemeldet zu haben.
Auch für Taiana, die für Flávios Sohn und seine Tochter im Nachbarbezirk arbeitet, ist es eine Frage der Ehre, pünktlich zu erscheinen und erst wieder zu gehen, wenn alle Aufgaben des Tages erledigt sind. Eine eigene Familie hat die Endzwanzigerin noch nicht. Das ließe sich nicht wirklich mit ihrer Arbeit vereinen, gibt sie unumwunden zu. Denn auch Taiana ist von früh bis spät aus dem Haus, hätte also gar keine Zeit, sich um eigene Kinder zu kümmern.
„Wenn es mal so weit sein sollte, werde ich die Anstellung hier aufgeben müssen.”
Wie sie, ihr Partner und ihre Kinder dann über die Runden kommen werden, sagt sie nicht. Sie wirkt auch kein bisschen betrübt, ganz im Gegenteil. Ist für Elaine ein kleines, zurückhaltendes Glucksen das Höchste der gezeigten Gefühle, lacht Taiana, laut und ungezwungen. Freimütig hat sie dem Interview zugestimmt und alle Fragen beantwortet, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Ich habe doch nichts zu verbergen”, sagt sie oft im Gespräch. Nicht vor der ausländischen Reporterin und auch nicht vor ihren Arbeitgebern. Nach ein paar schlechten Erfahrungen sei sie über Umwege zu ihnen gekommen, die jetzt „wie Familie” für sie seien.
Wie Familie: auch diese Formulierung fällt oft, sowohl in der Unterhaltung mit Taiana, als auch in der mit Elaine.
Hausangestellte als Familienmitglieder – in Brasilien gelebte Praxis. Mittelschicht-Kinder aus Elaines Generation sind noch mit Inhouse-Kindermädchen groß geworden, also mit Bediensteten, die mit im Haus gewohnt haben und rund um die Uhr verfügbar waren. Zwar ist das heutzutage eher die Ausnahme denn die Regel; die meisten Wohnungen verfügen jedoch nach wie vor über eine von der Küche abgehende kleine Kammer mit separater Toilette. Die Idee der Hausangestellten als vielseitig einsetzbare Ersatz-Oma hat sich in den Köpfen vieler Brasilianer bis heute gehalten.
Unter anderem auch deswegen kommt ein Text über brasilianische Hausangestellte nicht ohne Sozialkritik aus. Um ein wirklichkeitsgetreues Bild der Situation zu vermitteln, ist es unabdingbar, auf Missstände hinzuweisen und ihnen auf den Grund zu gehen. Zum Beispiel mit Hilfe folgender Fragen: Wer profitiert vom Status Quo? Wer hat kein Interesse, etwas daran zu ändern? Geht es hier auch um Schuld oder zumindest um Mit-Verantwortung? Und wenn ja: wessen? Die des 78-jährigen Pensionärs, der – wie Elaine bekräftigt – sie anständig behandelt und über Mindestlohn bezahlt? Oder ist es Aufgabe des Staates, das noch aus Kolonialzeiten stammende System zu ändern?
Weder Elaine noch Taiana sind politisch informiert, interessiert, gebildet. Sie haben auch keine Schulen besucht, an denen kritisches Denken gefördert wurde. Folglich verwundert es nicht, von ihnen kein schlechtes Wort über ihre Arbeit als Hausangestellte zu hören.
„Ich bin zufrieden mit meinem Leben”, sagt Elaine und es gibt keinen Grund, warum man ihr nicht glauben sollte.
Und Taiana, die junge Frau mit dem wachen Blick? Sagt sogar, sie sei glücklich, „muito feliz”, sehr sogar. Erst kürzlich hätte sie mit ihrer Arbeitgeberin einen Smoothie getrunken und sich dabei über alles Mögliche unterhalten – wie echte Freundinnen.
Echte Freundinnen, nur eben mit Macht-Gefälle, ist man geneigt, im Stillen hinzuzufügen.
Macht, Schuld, Missstand – starke Begriffe, die der deutschen Beobachterin angesichts des komplizierten Arbeits- und Abhängigkeitsverhältnisses zwischen wohlhabenden, meist weißen Brasilianern und ihren fast ausnahmslos Schwarzen Hausangestellten in den Sinn kommen. Auch in der brasilianischen Zivilgesellschaft gibt es Stimmen, die vor einer immer größer werdenden Spaltung der Gesellschaft warnen, von strukturellem Rassismus und systemimmanenter Diskriminierung ist die Rede. Davon betroffen sind insbesondere Frauen und Mädchen, wie die Frauenorganisation der Vereinten Nationen, UN Women, in ihrem Jahresbericht 2022 aufzeigt. Nicht zuletzt habe die globale Covid-19-Krise gezeigt, wie sehr Frauen aus sozial schwachen Milieus beispielsweise noch immer der Zugang zu umfassender Gesundheitsversorgung erschwert werde, heißt es weiter.
Doch wenn diejenigen, die betroffen sind und sich - wie im Rahmen dieser Recherche - zu dem Thema äußern, nichts an all dem auszusetzen haben; die froh sind, eine Arbeit zu haben, die ihr und ihren Familien ein bescheidenes Leben ermöglicht? Die in den Menschen, für die sie arbeiten, Freunde sehen?
Wessen Perspektive ist dann höher zu bewerten?
Während die Bohnen auf dem Herd vor sich hin köcheln, nimmt Elaine sich die Schlafzimmer vor, schüttelt Betten aus, faltet Hemden und Hosen, die auf dem Stuhl liegen. Bevor Flávio von seinem Termin zurückkommt, will sie auch noch schnell das Wohnzimmer wischen, „wegen der Hundehaare”. Schnell und doch gleichzeitig gewissenhaft wirbelt Elaine durch ihre Aufgaben , kurz stockt das Gespräch. Als sie fertig ist, glänzt der Boden und alles ist an seinem angestammten Platz.
Bleibt Elaine und Taiana und den anderen Hausangestellten am Ende gar nichts anderes übrig, als zufrieden zu sein mit dem, was ist – in einem starren und weitestgehend undurchlässigen System, das die Hierarchien in der brasilianischen Gesellschaft klar definiert, ja zementiert?
Weshalb sie sich dankbar zeigen für das, was sie haben? Was ihre Arbeitgeber wiederum als Bestätigung sehen.
„Sie hat Arbeit gesucht und ich habe ihr welche gegeben.”
Auf diese einfache Formel bricht Flávio die Beziehung zwischen Elaine und ihm herunter. Angebot und Nachfrage – die Triebkräfte des brasilianischen Marktes, sie wirken auch (oder vielmehr: besonders) dort, wo Humankapital eingesetzt wird.
Ist er sich des Machtgefälles zwischen Arbeitgeber und Hausangestellter bewusst?
„Gibt es das nicht immer und überall?”
Und dass so viele Beschäftigte in dieser Branche Frauen sind, noch dazu Schwarze Frauen?
„Frauen kümmern sich eben traditionell ums Haus. Und dass es überwiegend Schwarze Frauen sind, ist unserer Geschichte als Land mit der ehemals größten Sklaven-Population geschuldet. Aber das kann man uns ja wohl heute nicht mehr vorwerfen?”
Es ist keine echte Frage, mehr eine Feststellung. Und damit endet das Gespräch dann auch abrupt, Elaine wartet schon mit dem Mittagessen.
Sie wird erst später Zuhause essen. Bevor sie gehe, wolle sie aber noch aufräumen, damit sie morgen nicht noch früher kommen müsse.
Während sie spricht, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie ist zufrieden.
Wie so oft scheint es auch hier kein Schwarz oder Weiß zu geben, sondern viele Schattierungen.