Daniela Caixeta Menezes

Sambôdromo

A grande festa do Samba

Cover Image for Sambôdromo

Es glitzert und funkelt, tönt und trommelt, abertausende Farben und ausgefallene Kostüme, soweit das Auge reicht — willkommen bei der Königsdisziplin des brasilianischen Karnevals: der Parade der besten Samba-Schulen der Stadt (und damit der Welt). Noch immer ringe ich um Worte, das Gesehene zu beschreiben, bin ich zu reizüberflutet, um überhaupt zu begreifen, welch Spektakel wir da beiwohnen durften. Ein Fest für die Sinne; ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte: Rio Carnaval ist ein Erlebnis, das seinesgleichen sucht.

Jedes Jahr zur internationalen Karnevalszeit, also meist Ende Februar / Anfang März, zeigen um die 200 Samba-Schulen in Rio ihre Klasse; die besten 14 treten am Karnevalssonntag und -montag im Sambôdromo-Sapucai-Stadion im Stadtzentrum von Rio gegeneinander an — und lassen dabei keinen Zweifel daran aufkommen, welchen Wert Samba für die brasilianische Kultur hat.

Erahnen konnte ich es. Brasilien und Samba, diese unvergleichliche Musik mit mitreißendem Takt, gepaart mit einem leidenschaftlichen Tanz voller Energie, Eleganz und Erotik, Ausdruck eines Lebensgefühls. Überall ist er präsent in der brasilianischen Gesellschaft, Kinder scheinen ihn mit der Muttermilch aufzusaugen und brillieren mit rasanten Schrittkombinationen, die von außen häufig leicht und redundant aussehen, aber in Wahrheit höchste Kunst sind.

Und trotzdem war ich nicht vorbereitet auf das, was meinen Sinnen dort im Sambôdromo widerfahren würde. 8 Stunden Kür in Superlativen, und dabei haben wir noch nicht einmal bis zum Ende durchgehalten (obwohl wir im Gegenteil zu den Samba-Schulen gar nichts tun mussten, außer auf den Rängen stehen und staunen).

Die erste von 7 Schulen an diesem Abend beginnt mit ihrer Show um 21.15, zur besten TV prime time und als es rund um das Sambôdromo bereits dunkel ist. Das Stadion ist in Wahrheit eher ein Beton-Tribünen-Komplex, entworfen von Oscar Niemeyer, von 700 Metern Länge, durch dessen Mitte eine Straße führt — Straße im wahrhaftigen Sinne, denn das restliche Jahr über fließt der Verkehr hier entlang, außer es finden gelegentlich Konzerte statt (Eric Clapton und die Rolling Stones haben unter anderem bereits hier performt). Bereits der Zugang zum Stadion ist ein Erlebnis, liegt es doch inmitten eines Wohngebietes, dessen enge Gassen jeder Besucher durchqueren muss. Es herrscht ein geschäftiges Treiben, die Häuser, die direkt auf die Betonwand des Stadions blicken, haben Türen und Fenster geöffnet und reichen Bier und Snacks heraus. Überall stehen Plastikstühle vor provisorisch montierten Fernsehern vor den Häusern, auf denen das Samba-Event für diejenigen übertragen wird, die keine Eintrittskarte haben. Im ersten Moment fühle ich mich unwohl dabei, hier als Europäerin mit 80 EUR-Ticket (Durchschnittspreis, es gibt auch noch wesentlich teurere Kategorien, wie z.B. VIP Lounges (‘Camarotes’), in denen der Besucher dann auf Augenhöhe mit den Samba-Schulen sitzt) durchzustolzieren auf der Suche nach dem richtigen Einlasspunkt für meinen Sitzplatz. Rapha lacht und bekräftigt, dass ich mir sicher sein kann, dass die brasilianische Bevölkerung auf nichts so stolz ist wie auf ihren Samba, der mittlerweile so viele auch ausländische Besucher anlockt — die wiederum als Touristen natürlich auch Geld in die Kassen spülen.

Darüber hinaus folgt der Karneval in Rio einem außerordentlich solidargemeinschaftlichem Prinzip. Um das verstehen zu können, muss man in der Geschichte des Landes einige hundert Jahre zurückgehen.
Die ersten Karnevalfeiern fanden im frühen 17. Jahrhundert zur Ehren der griechischen Götter statt. 100 Jahre später brachten die Portugiesen das ‘Entrudo’-Festival mit Masken und Polka nach Brasilien; von der afrobrasilianischen Bevölkerung wurde mit der Samba-Musik bald darauf das Herzstück des Ganzen beigesteuert, was als Geburtsstunde des Carnaval brasileiro in der heutigen Form gilt.

Aufgrund der starken Verwurzelung in afrikanischer Kultur wurden Samba und Karneval insbesondere für die schwarze Bevölkerung Brasiliens identitätsstiftend und prägten deren häufig armen Gemeinden — Communities — in den Favelas. So wurden in diesen Vierteln Rios über die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinweg viele Samba-Schulen gegründet, die nach und nach an Bedeutung gewannen und einen anderen, wichtigen Blickwinkel auf diese Communities warfen, als es die landläufig abschätzige Meinung vieler Brasilianer, aber auch internationaler Kommentatoren erlaubte. Samba wurde zum Inbegriff subversiver, aber akzeptierter und irgendwann auch gepriesener ‘Anti’-Kultur, zum Bollwerk gegen eine Form von Mainstream-Bildung, die zur Zeiten der Entstehung des Rio Sambas nur bestimmten Klassen und Rassen vorbehalten war. Diese Samba-Schulen wurden zu Stätten (sub)kultureller Produktion und erlaubten es Generationen von Favela-BewohnerInnen, auf ihre Herkunft und Tradition stolz zu sein, mit der sie sich für gewöhnlich nur negativ abgrenzen konnten.

Jede Samba-Schule ist seit jeher verknüpft mit einer solchen Favela, die alljährliche Parade ist somit ein Projekt von der Community für und mit der Community. Die Vorbereitungen, insbesondere die Herstellung der vielen verschiedenen Kostüme, bieten Arbeit für Tausende der Ärmsten der brasilianischen Gesellschaft. Viele der Bewohner haben ihren Alltag an die Abläufe der Schule angepasst und engagieren sich — teilweise auch ehrenamtlich, sei es in der Organisation, der Kostümschneiderei oder als Tanzlehrer. Im Gegensatz zu ähnlichen Veranstaltungen in anderen Teilen der Welt sind die Samba-Schulen nicht nur Musikgruppen, sondern auch Nachbarschaftsverbände, die unterschiedliche Bedürfnisse der Gemeinde abdecken, wie z. B. Bildungsressourcen und medizinische Versorgung. Es verwundert also nicht, wie stark die Bindung der Favela-Bewohner zu ihren Samba-Schulen ist.

Mit zunehmender Bedeutung des Karnevals für die Stadt Rio und das Land Brasilien wurde in den 1980ern das Sambôdromo gebaut, das 90.000 Menschen fasst. Der Verband der Samba-Schulen organisiert jedes Jahr die Parade und wurde dabei in den letzten Jahren mit immer weniger Geldern von der Stadt Rio de Janeiro unterstützt. Grund dafür ist ein evangelikaler Bürgermeister, der im Karneval die Verrohung der Sitten zu erkennen meint und noch nicht zu verstanden haben scheint, welch ökonomisch und soziokulturell unentbehrliches Zugpferd ihm entflöhe, würde er den Karneval verbieten.

Die Samba-Schulen reagierten prompt und webten in den letzten Jahren immer stärker politisierte Botschaften in ihr Programm. So hat dieses Mal São Clemente die Hollywood-artige Kommerzialisierung — und letztendlich den vermeintlichen Tod — der Samba-Tradition angekreidet und ist mit Marylin Monroe-, Madonna- und Michael Jackson-Verschnitt angetreten. Das letzte Segment, das für gewöhnlich aus Tänzern in auffälligen Kostümen besteht, wurde hier von ‘normalem Fußvolk’ besetzt, das ein Transparent mit der Kernbotschaft hochhielt: wir wollen einen inklusiven Karneval. Wir lassen niemanden zurück. Wieder eine andere Schule spielte mit einer Allegorie auf den aus dem Präsidentenamt geschassten Linken Lula da Silva an. Abschlusscredo als Grafitti auf den letzten Wagen gesprüht: ‘ninguem solta’ — wir lassen uns nicht los.

Es wird gejubelt und Konfetti geworfen — aber ob das alle ausländischen Anwesenden auch verstehen? Schwierig, ohne den genauen Kontext und die kulturelle Tradition von Samba und dem brasilianischen Karneval zu verstehen. Das Begleitheft gibt’s jedenfalls nur auf Portugiesisch. Ein Augen- und Ohrenschmaus ist es für alle aber alle Male, und das ist ja vielleicht auch die Hauptsache.

Der Erlös der Ticketpreise kommt in erster Linie den teilnehmenden Samba-Schulen zugute, die sich damit refinanzieren und die Kosten für die aufwändige Gestaltung der Parade decken. Eine weitere wichtige Einnahmequelle sind die anteilig begrenzte Teilnahme an der Parade als Tänzer. Während die großen und wichtigen (und damit auch künstlerisch, also Samba-technisch anspruchsvollsten) Rollen der Choreographie erstklassigen Tänzerinnen und Tänzern (aus den jeweiligen Favelas stammend, manchmal aber auch mit brasilianischen Stars besetzt) vorbehalten sind, kann jeder Interessierte ein Kostüm ersteigern und somit Teil einer Schule sein. Der damit erzielte Gewinn ermöglicht wiederum die Teilnahme einer finanziell weniger gut gestellten Person aus den Reihen der Community, an der Parade der Schule teilzunehmen. In den Monaten vor der Show finden dann regelmäßige Trainings statt. Aber richtig auffallen tut jemand, der die Samba-Schritte vielleicht nicht erstklassig beherrscht, in der Masse der bis zu 3.000 Leute einer Schule so oder so nicht.

Die Einteilung dieser tausenden Menschen sowie der Ablauf der Parade sind vom Verband vorgegeben. So hat jede Schule zwischen 60 und 75 Minuten Zeit, die 700 Meter mit all ihren Wägen (mindestens 5 und maximal 6) und Segmente (‘alas’) (jedes Segment muss um die 50 Teilnehmer haben und sich im Kostüm von den anderen abheben) zu betanzen. Die ‘alas’ repräsentieren verschiedene Bestandteile des Themas (‘enredo’), da sie eine Hommage an einen Mythos, ein historisches Ereignis oder eine Figur darstellen oder ihre Ansicht zu einer sozialen, ökologischen oder internationalen Frage ausdrücken. Sie zeigen verschiedene Kostüme (‘fantasias’) und spiegeln auch die traditionellen Samba-Schulrollen wider, die vor Jahren entwickelt wurden. Jede Schulparade hat das ‘Comissao de Frente’, eine Eröffnungsgruppe, bestehend aus Bewohnern des jeweiligen Viertels, die die Parade öffnen, indem sie in ‘normaler’ Kleidung spazieren gehen und die Menschenmassen grüßen. Die ‘Porta-Bandeira’ (weibliche Flaggenhalter) und der ‘Mestre-Sala’ zeigen die Schulflagge.

Ebenfalls Pflichtbestandteil jeder Schule sind die ‘ala das Baianas’, das traditionelle Segment bahianisch-brasilianischer Frauen mit weiten runden Kleidern, die sich durch die Allee drehen. ‘Puxadores’ singen das Samba-Enredo; die ‘Velha Guarda’, ältere Gemeindemitglieder, die in der Schule Geschichte geschrieben haben, gefolgt von der ‘bateria’, der Samba-Band mit Schlagzeug und Trommeln, die von der ‘madrinha da bateria’, der Bandpatin (einer der wichtigsten Rolle der gesamten Schule) begleitet wird.

Die gesamte Band-Sektion biegt kurz vor Ende in einer ausgeklügelten Technik ab und lassen alle anderen Segmente passieren, bevor sie sich wieder einreihen, damit jeder Abschnitt von Trommlern unterstützt wird.

Begleitet wird die Parade musikalisch natürlich von Samba-Musik, und zwar von einem einzigen Song, der nahtlos immer und immer wieder gespielt wird. Er untermalt das für das Jahr gesetzte Thema der Schule und wird in einem langen Prozess über Monate hinweg von der gesamten Community ausgewählt und von einem ‘Carnavalesco’, dem Karnevalsdirektor, perfektioniert und einstudiert. Dieser Soundtrack wird dann der Öffentlichkeit Anfang des Jahres bekannt gemacht, und so singen um einen herum alle lauthals und mit Inbrunst mit, immer dasselbe Lied. Das ist aber keinesfalls eintönig; und überhaupt geht die eine Stunde jeder Schule rasend schnell um, weil es so viel zu sehen, zu entdecken, zu bestaunen gibt.

Dabei ist es ein absolut gigantisches Meisterwerk, wie reibungslos die Organisation und das Fortbewegen der Parade gewährleistet wird. In jedem Segment sorgen mehrere ‘Dirigenten’ dafür, dass sich die Masse an Menschen in einem gesunden Fluss bewegt, zur richtigen Zeit gesammelt stehen bleibt und harmonisch wieder anläuft. Denn die Art und Weise, wie sich die Parade bis an ihr Ziel fortbewegt, ist eine der 9 Kategorien (z.B. Kostümdesign, Enredo und Performance der Trommler), nach denen die Schule bewertet wird. Ausnahmslos jeder Schule gelingt eine Punktlandung, indem nach 1h15 die letzte Gruppe die Ziellinie überquert. Ich habe nicht bloß einmal gedacht: das wird nichts mehr, das Tempo insgesamt ist nicht hoch genug und am Ende werden sie sich sputen müssen. Stattdessen haben sie beharrlich und seelenruhig an ihrer Choreographie festgehalten und sind in geordneter Manier vorgerückt. Absolut phänomenal.

Als die letzte Schule an den Start geht, ist bereits Morgengrauen. Während wir uns die Wiederholdung davon Stunden später im Fernsehen anschauen, reiben wir uns zufrieden die Augen: anscheinend sind wir unter den nur Wenigen gewesen, die das Stadion vorzeitig verlassen haben; die Ränge sind noch immer gut gefüllt und die Besucher tanzen noch immer wie wild.

Absolut beeindruckend. Ich ziehe meinen Hut vor dir und deinem Samba, Brasilien, dieser magischen Kraft, die es hoffentlich noch bis in alle Ewigkeit schaffen wird, zumindest für kurze Zeit soziale Spannungen zu überwinden und alle zusammenzubringen.