Daniela Caixeta Menezes

pandemien

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Im Norden und im Süden, im Westen wie im Osten, auf dem Land, in der Stadt, gar auf den kleinsten aller Inseln gibt es einen Begriff, den jeder kennt: Pandemie.

Mittlerweile, will ergänzen, wer vor 2020 das Glück hatte, am richtigen Ort der Weltkugel zu leben, für den bis dahin Schutzmaßnahmen und Eindämmung und die statistische Wahrscheinlichkeit, selbst einmal betroffen zu sein, nichts mehr als weit entfernte Größen darstellten. Der Sorte nämlich, die sich nur allzu leicht verdrängen ließen, schlimm, was da passiert, wirklich entsetzlich, bekundeten wir unser Mitgefühl zwischen Latte Macchiato und Kuchen, bevor wir uns wieder dem eigenen Alltag zuwendeten.

Freilich, auch dieser will organisiert, das enge Terminkorsett gestrafft, das Kind umsorgt werden, da bleibt nicht viel Zeit für Dinge in der Ferne.

Bis sie eines Tages auch über uns hereinbrachen, die Dinge, die wir dort, am Ende der Welt vermuteten. Zuerst kamen die Gerüchte, war das Virus wirklich schon da?, vollmundige Abwiegelung, höchstens ein Grippchen stünde uns da bevor, kaum der Rede wert, bis man selber jemanden kannte: Patient null bis eintausend. Nachrichten überschlugen sich, Expertinnen und Experten tauchten auf und wieder unter, ihre Thesen sahen oft nicht den Abend: Falsifikation nannten sie es.

Latte Macchiato und Kuchen gab es fortan nur noch daheim, sicher war sicher, wir fachsimpelten, klatschten und lobten die Fleißigsten unter uns, wahrten Abstand, passten aufeinander auf. Nicht alles lief rund, Stichwort Digitalisierung und Schulschließungen, doch überstanden sind entbehrungsreiche Jahre, haben sie uns nicht widerstandsfähiger, klüger, solidarischer werden lassen?

Möglich, einerseits.

Andererseits: ignorieren wir nicht die größte aller Pandemien, und das schon seit geraumer Zeit? Weil es bequemer ist; weil wir ahnen, was mit uns geschähe, wenn wir nur die Scheuklappen ablegten, die Ohren und Augen nicht weiter verschlössen?

In unseren dunkelsten Träumen ist sie schon da, fährt die Klauen aus, greift zu, geht unter die Haut. Lässt sich nicht abschütteln, bis das Morgenlicht den Schrecken der Nacht übertüncht, abschüttelt wie eine Daunenfeder aus dem Kopfkissen, brrr, bibbern wir erschauert, welch ein Alptraum, dann beginnt der Tag, ein neuer Tag, einer wie immer.

Wir haben uns an sie gewöhnt, an die größte aller Pandemien, schauen nicht hin, weil wir des Anblicks müde geworden sind, Schulterzucken: Was kann ein Einzelner schon bewirken? Die da oben, die können was tun, heißt es dann, doch die Wahrheit ist viel komplizierter, sie ist düster, hat die Farbe unserer dunkelsten Träume.

In Wahrheit sind wir es nämlich, du und ich und alle, wir, die beschämt den Blick senken oder gleich die Straßenseite wechseln: Nutznießer eines Systems, das diese Pandemie anfacht wie Sauerstoff das Feuer.

Regungslos steht die Gesellschaft vor den Scherben ihrer Untätigkeit, unschlüssig, anästhesiert, höchstens etwas peinlich berührt: man hat halt auch viel dafür getan, und auch ein bisschen Glück gehabt, rechtfertigt man sich.

Dabei holt sie uns ein, diese Pandemie, gleich oder später, dich und mich und uns alle, weil alles mit allem verbunden ist. Und dann werden wir aufwachen, die Ärmel hochkrempeln und tun, was dann plötzlich geschafft werden kann: Gelder mobilisieren, konzertierte Aktionen planen, Menschenleben schützen. Denn sie ist nicht gottgegeben, diese Pandemie.

Wir müssen nur aufwachen und sie beim Namen nennen: die Armutspandemie.