Daniela Caixeta Menezes

normal

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Der Tag, an dem meine Mutter zu einer anderen wurde, war ein Dienstag, ein ganz normaler Dienstag. Nichts deutete darauf hin, dass er besonders werden würde.

Wie so oft begann es morgens zu regnen und hörte dann bis zum Abend nicht mehr auf, feiner Sprühregen, wie es ihn nur bei uns gab. Wie üblich quälten mein Bruder und ich uns schwermütig aus den Betten, als handelte es sich beim Aufstehen um die größte Herausforderung der Menschheit. Und wie üblich stand mein Vater bereits mit Jacke und Schirm in der Tür, um zur Arbeit zu fahren, als wir aus unseren Zimmern schlurften. Von meiner Mutter, die für gewöhnlich bereits vor meinem Vater auf den Beinen war, um ihm Brote für den Tag zu schmieren und ihm dann einen flüchtigen Abschiedskuss auf die Wange drückte, war nichts zu sehen und auch nichts zu hören, was sehr verwunderlich war, wo war sie denn bloß?

Da standen wir also – wie üblich, nur dass meine Mutter fehlte – im Flur, mein Vater, mein Bruder und ich, allesamt mit müden Gesichtern, mein Vater bemüht um ein paar Floskeln, während er in seine festen Arbeitsschuhe stieg, an denen noch der rötliche Schlamm vom Vortag klebte. Als er sich bückte, um die Schnürsenkel zu binden und mein Bruder sich an mir vorbei in Richtung Küche quetschte, hörten wir es. Erst nur ganz leise, ein Wimmern, ein Klagen, fast hätten wir’s der Nachbarin angelastet, vermutlich sprach sie mit ihrer Katze, dachten wir, wie üblich.

Mein Vater, der eh nicht gut hörte, hörte es vielleicht auch gar nicht, ich weiß es nicht, jedenfalls erhob er sich, nahm seinen großen Stockschirm und hatte die Klinke bereits in der Hand, als wir ihn vernahmen: einen Schrei, so grell, dass wir zusammen zuckten. Unsere Ignoranz, die auf der Katzentheorie fußte, fiel uns auf die Füße. Nein, das konnte unmöglich ein Tier gewesen sein, das dachten wir wohl beide in diesem Moment, und dann kam auch schon mein Bruder aus der Küche gerannt und blickte uns fragend an. Instinktiv zuckten wir mit den Schultern, als wäre damit irgendwem geholfen, doch wir waren ahnungslos und das lässt einen vermutlich zu unsinnigen Gesten hinreißen.

Ein zweiter Schrei, dieses Mal bestand kein Zweifel: er musste aus unserer Wohnung stammen, weshalb wir in Richtung Elternschlafzimmer hasteten, wo wir den Ursprung des Schreis vermuteten. Unterwegs fummelte mein Vater an seinem Schnürsenkel, doch schnell begriff er die Unsinnigkeit seiner Idee, bloß nicht mit Schuhen die Wohnung zu betreten. Konfrontiert mit einem solchen Schrei konnten unmöglich Konventionen wie diese aufrechterhalten werden, zu dem Schluss musste er dann wohl auch gekommen sein.

Und angesichts dessen, was uns dann im Schlafzimmer erwartete, handelte es sich zweifelsohne um eine wirklich unsinnige, vollkommen nichtige Idee.

Zweifelsohne dachte in diesem Moment dann wohl niemand mehr an schmutzige Schuhe auf sauberen Böden.

Zweifelsohne überstieg das, was wir sahen, als wir das Schlafzimmer betraten, alles nur irgendwie Denkbare, alles auch nur halbwegs Vorstellbare.

An dieser Stelle muss auf die Normalität meiner Mutter hingewiesen werden, darauf, wie vollkommen normal und gewöhnlich sie im Grunde war. Vor diesem Tag. Vor diesem Tag hätte ich meine Mutter als ganz gewöhnliche Mutter bezeichnet, soweit ich das von meiner nicht ganz unbefangenen Warte aus beurteilen konnte. Meine Mutter war weder besonders groß, noch besonders klein, weder dick noch dünn, nicht über die Maßen auffällig, aber auch nicht unauffällig; sie hatte keinerlei physische Attribute, die sie aus der Masse hervorstechen ließen. Auch charakterlich war sie äußerst normal, weder übermäßig laut, noch auffallend leise, gelegentlich schimpfte sie mit uns, doch ihr Ärger verflog meist schnell. Sie war einfach meine Mutter, mit allem, was zu einer Mutter eben dazu gehört, und so kannten wir sie. Vor diesem Hintergrund war es folglich mehr als irritierend, sie schließlich so zu sehen.

Noch bevor wir die Zimmertür aufstießen, ertönte ein weiterer Schrei und dieses Mal war er derart grell und von einer solchen Intensität, dass wir das Schlimmste befürchten mussten. Alles in mir raste, das Herz, der Atem, die Gedanken, sodass ich nicht wusste, worum ich mich zuerst sorgen sollte. Bis mir wieder einfiel, dass wir uns womöglich zuallererst um meine Mutter sorgen mussten, deren Schreie auf nichts Gutes schließen ließen.

Mein Bruder war als Erster am Elternschlafzimmer angelangt, kauerte davor wie ein verwundetes Tier, das vor lauter Angst starr geworden ist. Ich tat es ihm gleich, meine Kehle war wie zugeschnürt. Endlich kam mein Vater in nur einem Schuh angestürmt, den zweiten musste er unterwegs ausgezogen oder verloren haben, wegen des fehlenden Schuhs humpelte er mehr als dass er stürmte, sein Gesicht ein offenes Buch der unterschiedlichsten Gefühle.

Dennoch zauderte er nicht lange, wofür ich ihm dankbar war, weil ich mir natürlich große Sorgen um meine Mutter machte, mich aber nicht imstande fühlte, selbst die Schlafzimmertür zu öffnen. Mein Vater zauderte nicht, schubste uns unsanft zur Seite und warf sich förmlich gegen die Tür, unter seinem Gewicht schwang sie weit auf und knallte gegen den Schrank, der aus Platzgründen direkt hinter der Tür platziert werden musste. Nochmals zuckten mein Bruder und ich zusammen, und in Bruchteilen einer Sekunde dann ein weiteres Mal, dann nämlich, als mein Vater wiederum einen Schrei ausstieß. Ein Schrei, fast wie ein tierisches Grollen, weniger grell als der meiner Mutter, aber nicht weniger furchteinflößend.

Dazu muss man wissen, dass auch mein Vater ein ganz gewöhnlicher Vater ist, vielleicht ein bisschen weniger gewöhnlich als meine Mutter, was ja bei Vätern häufig der Fall ist, weil Väter eben manchmal ungewöhnliche Dinge tun, Dinge, die Mütter nie tun würden. Ins Fußballstadion gehen und betrunken nach Hause kommen, zum Beispiel, abends von der Arbeit heimkehren, die Ledertasche in den Flur stellen und sofort wieder das Haus verlassen, „abschalten”, nannte er das. Gut möglich, dass Väter im Allgemeinen das taten und mein Vater damit nichts Besonderes war, jedenfalls machte ihn das ein klitzekleines Bisschen weniger gewöhnlich als meine Mutter, die eigentlich immer Zuhause war, nie ins Fußballstadion ging und nie betrunken von irgendwoher zurückkam.

Meinen Vater mit einer solchen Inbrunst schreien zu hören, ließ uns folglich erneut zusammenzucken, es konnte nur bedeuten, dass etwas wahrhaft Schreckliches vorgefallen sein musste. Am liebsten wäre ich in diesem Moment wieder umgedreht und den Flur zurück in Richtung Küche gerannt, oder besser noch: durch den Flur und zur Haustür, wo ich vielleicht über den zweiten Schuh meines Vaters gestolpert wäre, und dann raus aus dem Haus und weg von den Schreien, ganz gleich wohin, einfach nur möglichst weit weg von meinen Eltern und ihren schauerlichen Schreien.

Überraschenderweise war mein Bruder derjenige, der seinen Schrecken überwand und vorsichtig den Kopf ins Zimmer steckte, in dem unser Vater stand und die Mutter vermutlich dahinter im Bett lag, so genau konnte er das wohl nicht erkennen, weil ihm durch meinen Vater der Blick versperrt war. Überraschend deshalb, weil mein Bruder für gewöhnlich der größere Angsthase von uns beiden war, immerzu schickte er seine kleine Schwester vor, beim Eiskaufen, bei Kindergeburtstagen, selbst bei harmlosen Verwandtschaftsbesuchen.

Dieses Mal war er kein Angsthase, zumindest kein größerer als ich, steckte wie erwähnt den Kopf durch die Tür, neigte den Kopf erst nach links, dann nach rechts, um an meinem Vater vorbei einen Blick auf meine Mutter zu erhaschen, er tat es in Zeitlupe. Aus sicherer Entfernung beobachtete ich ihn dabei, und als auch er schließlich einen Schrei ausstieß, wusste ich, dass es ihm gelungen war, dass auch er einen Blick auf meine Mutter geworfen haben musste. Sein Schrei war einer der Art, den man von Kindern kennt, die sich in großer Not und Panik befinden, die vielleicht ihre Eltern irgendwo in einer Menschenmenge verloren haben und sich orientierungslos im Kreis drehen, um sie wiederzufinden. Mein Bruder aber hatte seine Eltern nicht verloren, sie befanden sich direkt vor ihm, lebendig, denn sonst hätten sie kaum schreien können, weshalb ich mich fragte, was es sein könnte, was hatte meinem Bruder einen derartigen Schrei entlockt?

Es half alles nichts, dachte ich, auch ich musste mich trauen und meinem Vater und meinem Bruder ins Elternschlafzimmer folgen, aus dem mich nun bereits drei entsetzliche Schreie erreicht hatten. Herz, Atem, Gedanken: noch immer rasend; mein ganzer Körper: angespannt, bis in die Haarspitzen.

Meine Mutter wimmerte jetzt wieder, was nicht weniger furchteinflößend klang, weil meine Mutter niemals wimmerte. Auch mein Vater musste es auf Grund ihres ungewöhnlichen, wimmernden Jammers mit der Angst zu tun bekommen haben, hilflos zischte er sie an, befahl ihr, damit unverzüglich aufzuhören. Doch wie er es sagte, klang es nicht brüsk oder erbost, vielmehr verzweifelt, so als ob er gar keine Lösung für das Problem sah, das meine Mutter zu diesem allerersten Schrei veranlasst hatte.

Dazu ist es hilfreich, zu wissen, dass mein Vater für gewöhnlich immer eine Lösung kannte, ganz gleich, wie knifflig das Problem auch sein mochte. In all den Jahren, seit ich denken und mich erinnern konnte, hatte es noch kein Problem gegeben, mit dem mein Vater nicht hatte umgehen können. Nichts schien ihn jemals zu überfordern, nichts je sein Geschick und seine Fertigkeiten zu beeinträchtigen; wann immer es ein Problem gab, mein Vater konnte in Windeseile eine Lösung präsentieren. So war es immer schon gewesen, und deshalb erschreckte es mich, die Verzweiflung in seiner Stimme zu hören. Mein Vater: ein ganz gewöhnlicher Vater, und ein Vater seines Typs, an dem nichts außergewöhnlich oder besonders war, war nie verzweifelt.

Jetzt aber war er es, was mich wirklich und wahrhaftig erschauern ließ. Natürlich nützte es nichts, mich weiter im Flur zu verstecken und den Schreien und Wimmern und Befehlen meiner Familienmitglieder zu lauschen, nein, ich musste mich ebenfalls ins Elternschlafzimmer wagen, so viel stand fest.

Gerade als ich all meinen Mut zusammengenommen hatte, hörte ich einen Schmerzlaut meiner Mutter, gefolgt von einem klagenden „nein nein”, der mich erneut aus der Fassung brachte und mich fast von meinem Plan zurückschrecken ließ, das Zimmer zu betreten, mit Schmerzen konnte ich nun weiß Gott überhaupt nicht umgehen, Schmerzen und Blut und sämtliche Ausscheidungen versetzten mich stets in Schockstarre. Ich rief meinen Vater, wollte seine Absolution, dass es okay sei, wenn ich hereinkäme, dass ich weder Schmerzen noch Blut noch Ausscheidungen darin begegnen würde, aber statt einer Antwort befahl mein Vater meiner Mutter erneut, aufzuhören, und meine Mutter klagte wieder ihr „nein nein”, nur mein Bruder war still. Ich setzte einen Fuß vor den anderen, rutschte mit dem Kopf an der Tapete entlang, bis mein Gesicht den Türrahmen berührte, nur noch wenige Zentimeter und ich würde ebenfalls einen Blick auf meine Mutter werfen können. Lag sie wohl noch im Bett oder war sie inzwischen aufgestanden? Wo stand mein Vater und was war mit meinem Bruder geschehen? Herz und Atem und Gedanken: rasend, pulsierend, ich darf nicht daran ersticken, ermahnte ich mich, es werden mich schon keine Schmerzen und Blut und Ausscheidungen erwarten, sprach ich mir selber Mut zu, doch es verfehlte seine Wirkung, ich war im Gegenteil noch viel aufgeregter.

Dann, nach einer lähmenden Ewigkeit, krallte ich die Fingerspitzen ins Türscharnier, drückte meine Nase gegen das kalte Holz des Rahmens und wagte es, die Augen darüber hinweg zu schieben, ganz langsam, Stück für Stück, bis schließlich Ausschnitte des elterlichen Schlafzimmers vor mir auftauchten, eine zerknüllte Bettdecke, ein Kissen, der Rücken meines Bruders, er war also noch da, mittendrin in meinem Sichtfeld. Meine Augen wanderten weiter, links hinten im Raum stand mein Vater, wild gestikulierend, aber ohne zu sprechen, seine Augen klein und vom Schrecken gezeichnet. Nur meine Mutter, die sah ich nicht, aber ich musste sie sehen, weshalb ich nun zwei weitere Schritte machte, ich stand jetzt im Türrahmen, mit den Händen stützte ich mich links und rechts daran ab, als würde der Boden unter mir zusammenbrechen und als wäre diese Holzkonstruktion das Einzige, das mich vor dem Absturz retten könnte.

Und dann sah ich sie schließlich, weil mein Bruder sich aus seiner Erstarrung löste und um das Bett herum auf meinen Vater zuging, sodass ich einen uneingeschränkten Blick auf meine Mutter hatte, die sich noch immer im Bett befand, allerdings nicht liegend; nein, sie lag nicht, sie hatte sich erhoben und saß aufrecht auf der Matratze, und weil es eine weiche Matratze war (die meine Mutter unbedingt hatte haben wollen; ein Wunsch, dem mein Vater großzügig nachgekommen war, wo doch meine Mutter für gewöhnlich so gut wie nie Wünsche äußerte, weshalb es sich bei diesem folglich um einen sehr großen, wichtigen handeln musste), wölbte sie sich an den Seiten rund um meine Mutter nach oben, sodass es aussah, als säße sie in einem Krater.

Auf den ersten Blick konnte ich nichts Ungewöhnliches an meiner Mutter erkennen. Kerzengerade saß sie da, die Beine lagen ausgestreckt auf der Decke. Sie schaute meinen Vater an und aus dem Profil wirkte auch ihr Kopf normal, normal groß, normalfarbig, alles war normal, selbst ihr Gesichtsausdruck, zumindest soweit ich das von der Zimmertür aus sehen konnte, vielleicht zuckte ja auch ihr rechtes, für mich nicht sichtbares Auge, oder sie hatte doch eine klaffende, blutende Wunde am rechten Ohr (Gott bewahre!).

Auf der Suche nach Antworten auf meine Frage, was denn überhaupt los sei, schaute ich zuerst auf meinen Vater, dann auf meinen Bruder, doch keiner der beiden beachtete mich. Mein Vater, am linken Bettende stehend, fuchtelte noch immer mit beiden Armen tonlos vor meiner Mutter herum, während mein Bruder mit hängenden Schultern neben ihm stand und meine Mutter fixierte, in seinen Augen sah ich dann den Schrecken aufblitzen. Ich fragte wieder, was ist denn los, was ist denn los, nun war ich die Einzige, die schrie und der Schrei verhallte in der Todesstille des Raumes, die weder mein Vater noch mein Bruder noch meine Mutter mit irgendetwas füllte außer mit einem tonlosen Etwas, das ich nicht greifen konnte. Abrupt drehte meine Mutter ihren Oberkörper, schaute mich an, ihr Blick unergründlich, ich sah, dass sowohl das rechte Ohr als auch das rechte Auge an seinem Platz war, atmete beruhigt aus, kein Blut, keine Ausscheidungen (soweit ich das im Türrahmen stehend beurteilen konnte), wohl auch keine Schmerzen, denn auf ihrem Gesicht lag kein Ausdruck des Schmerzes, höchstens der Resignation, was hatte sie denn?

Dann, eine Bewegung, die Matratze gab nach, das Kraterloch, in dem meine Mutter saß, verrutschte um ein paar Zentimeter, sie hob ihre Arme in die Luft, erst den einen, dann den anderen, mein Blick folgte ihren Bewegungen, er haftete auf ihrer Schulter, streifte ihren Oberarm, arbeitete sich weiter runter, kam am Unterarm an, als ich verstand.

Ich schrie auf, presste mir die Hand auf den Mund, ein zweiter Schrei erstickte in der Kehle, meine Augen: sie mussten in diesem Moment denselben Schrecken ausgestrahlt haben wie die meines Bruders. Als ich schrie, ließ meine Mutter die Arme wieder auf die weiche Matratze sinken, sodass ihre Hände wieder zwischen Kissen und Decke verschwanden. Die Hände meiner Mutter, die an diesem Morgen zu einer anderen geworden war; ihre Hände, die von diesem Morgen an keine normalen mehr waren, mit denen sie nicht in der Lage sein würde, sich auch nur annähernd normal zu verhalten. Wie sollte das gehen, mit solchen Händen: eine normale Mutter sein? Wie würde sie die Wäsche waschen, das Essen kochen, den Einkauf erledigen, mit solchen Händen? Auf welche Weise würde sie all die Dinge tun, die normale Mütter eben so taten, mit solchen Händen?

Nein, es war vollkommen ausgeschlossen, dass alles so bleiben würde, wie bisher, dass alles seinen normalen Lauf gehen würde; der normale Lauf, der daraus bestand, dass mein Vater wie alle mehr oder weniger normalen Väter morgens mit seiner ledernen Tasche aus der Wohnung trat, sich im Flur die Schuhe band, nach dem Schirm griff und zu seinem Auto ging, mit dem er dann davonfuhr und erst am Abend zurückkehrte, um dann manchmal gleich wieder aufzubrechen, ins Fußballstadion oder sonst wohin, um „abzuschalten”.

Meine normale Mutter, die für gewöhnlich keine Anstalten machte, meinem Vater häusliche Pflichten aufzutragen, wo kämen wir denn dahin, sagte sie immer, dein Vater arbeitet so hart, diese normale Mutter würde auch jetzt keine Anstalten machen, selbst jetzt, wo sie alles andere als normal war, mit solchen Händen. Im Grunde musste sie das auch gar nicht, denn in diesem Moment wussten wir es alle, wussten Bescheid, dass sich nun alles ändern würde, dass nichts mehr normal sein würde, dass weder mein Mutter noch mein Vater normale Eltern sein würden. Fortan würde mein Vater sich von seinem gewöhnlichen Vater-Leben verabschieden müssen, vielleicht würde er aber auch einfach verschwinden, der Gedanke schoss mir plötzlich durch den Kopf, während ich im Türrahmen stand und meine gar nicht normale Mutter anstarrte; vielleicht würde er gleich einfach in den Flur gehen, seinen zweiten Schuh anziehen, den Schirm greifen, die Wohnung verlassen und zum Auto gehen, mit dem er für immer davonfahren würde. Ganz ausgeschlossen war das nicht, wie ich verängstigt feststellen musste, wer will schon von jetzt auf gleich sein normales Leben aufgeben und plötzlich ein gar nicht normales Leben führen; ein Leben, das für meinen Vater daraus bestehen würde, die Wäsche zu waschen, das Essen zu kochen und einkaufen zu gehen?

Nein, dass er in jedem Moment in den Flur gehen und das Haus verlassen könnte, war ganz und gar nicht ausgeschlossen, und als ich den Blick meiner Mutter auffing, wusste ich, dass sie dasselbe denken musste.