Daniela Caixeta Menezes

Michelle

Woman in Portrait

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»Ich bin 18 Jahre alt und ich hab grad mein Abitur beendet und stehe jetzt auf der Kippe zwischen Job/Universität. Ich bin mit meinem Freund zusammengezogen und stehe schon mit meinen jungen 18 Jahren im Prinzip auf eigenen Beinen, weil ich seit 3 Jahren Kellnerin bin.

Ich weiß noch nicht, was jetzt auf mich zukommen wird, weil ich mich noch nicht für einen Beruf entschieden habe und generell noch nicht die Richtung kenne, in die es geht. Ich habe einige Ideen und ich glaube, es wird der künstlerische Weg sein.Ich bin jetzt erst einmal nach Brasilien gegangen, 5 Wochen reisen, um auch ein bisschen vor der Entscheidung zu flüchten.

Ich weiß genau, dass in Deutschland eigentlich jeder wieder auf mich einreden wird, was das Beste für mich sei und dass ich schnellstmöglich etwas finden soll. Aber dadurch, dass ich nicht weiß, was das sein wird, ist der Druck noch viel schlimmer für mich.

Zum Beispiel findet meine Oma es überhaupt nicht toll, dass ich mich für ‘brotlose Kunst’ interessiere. Meine Freunde sind ziemlich unterschiedlicher Meinung; ein paar meinen, es wäre faul, wenn ich mir jetzt erst einmal Zeit zur Orientierung nehmen würde.

Das ist schon ein bisschen traurig und ich versuche, mich nicht davon runterziehen zu lassen, aber wenn jeder auf mich zukommt mit so einer Haltung, ist das schon ein wenig schwer. Vor allem auch mit der finanziellen Hilfe durch die Agentur für Arbeit – ich muss mich immer rechtfertigen, was kommt, was möchte. Die versuchen mich unglaublich oft zu überreden. Ich soll zum Beispiel Hotelfachfrau werden. Das ginge halt komplett weg von der Kunst. Die machen es mir nicht leicht.

Aber die Reise tut mir gut. Ich bin jetzt schon vier Wochen unterwegs. Als erstes Reiseziel außerhalb Europas dann mit 18 Jahren als Frau gleich allein nach Brasilien – ohne Sprachkenntnisse – ist nicht ohne! Ich war viele Male ziemlich hilflos. Im Vorfeld haben wir viele eingeredet, dass Brasilien so gefährlich wäre. Aber ich habe mich nie unsicher gefühlt; es war einfach nur spannend wegen der vielen Herausforderungen. Heute fühle ich mich schon viel stärker innerlich.

Ich denke, wenn ich nach Hause komme, fühle ich mich viel selbstbewusster. Vor der Reise habe ich mich erdrückt gefühlt von diesem Druck, eine Entscheidung treffen zu müssen. Aber jetzt weiß ich, dass es eigentlich viel mehr gibt.

Ein Jahr ’nichts machen’ ist eigentlich nicht relevant für den Werdegang. Es ist nicht der Weltuntergang. Ich habe während meiner Reise mit vielen Menschen von überall auf der Welt gesprochen und im Grunde waren sich alle einig, dass es nicht viel ausmacht. Jeder Weg, den man geht, ist für sich gut und schlecht zugleich, und immer ist man hinterher um eine Erfahrung stärker.

Bevor ich hergekommen bin, war ich zeitweise tagelang nur noch im Bett, weil ich wusste, was alles auf mich zukommen würde. Ich hatte keine Überraschungen mehr, keine Dinge, die mich irgendwie beeindrucken, die eigentlich Sinn geben sollten. Ich wusste: das ist der Tagesablauf, das muss ich tun. Gerade dieser Weg bietet natürlich Sicherheit, aber Sicherheit ist nicht zwangsläufig der Weg, der einen glücklich macht.

Und hier in Brasilien habe ich gelernt, wie glücklich es mich macht, spontan und ohne großes Planen leben zu können. Das ist so erleichternd!
Ich denke, viele Menschen in Brasilien würde liebend gern mit mir tauschen und diese Sicherheit erlangen, aber man vergisst dann glaube ich auch schnell, dass diese Sicherheit bedeutet, dass man ein stückweit auf Abenteuer und Leidenschaft verzichten muss. Ich denke, das sorgt für die meisten Depressionen bei uns in Deutschland. Dass es nichts mehr gibt, wofür man in den Tag lebt. Jeder sagt dir, du musst diesen sicheren Weg gehen. Wieso sollte man einen riskanten Weg gehen? Aber für mich bedeutet riskant nicht gleich schlecht.

Vor fünf Wochen hätte ich niemals gedacht, dass ich eine solche Freiheit und Glück verspüren kann. Dieser Druck war so groß. Und ich habe nicht gesehen, dass es einen anderen Weg gibt; mir wurde immer vorgelebt, dass der andere, unsichere Weg der unkluge, dumme ist; dass man damit nie Erfolg haben wird. Das merkt man zum Beispiel auch an den Reaktionen darauf, dass ich überlege, freie Künstlerin zu werden.

Es ist bestimmt komisch, dass ich hier mit meinen 18 Jahren so philosophisch daherrede, aber ich finde es sehr interessant, nachzudenken über die menschliche Psyche, die Zukunft und darüber, was einen glücklich macht. Es ist so wichtig, aus seiner eigenen Komfortzone rauszukommen. Wir mauern uns ein in der Sicherheit – aber viele Menschen werden damit nicht glücklich, glaube ich.

Ich finde, wir leben oft in Mustern, die wir uns selber bilden, als eine Art Schutzstrategie. So wissen wir genau, was auf uns zukommt. Dann fühlen wir uns auf der sicheren Seite. Aber manchmal halten einen diese Muster auch auf, weil man dann nicht den Mut findet und nicht wachsen kann.
Es ist schwer, mit diesem gesellschaftlichen Druck diesen Mustern zu entfliehen. Denn einerseits möchtest du ja selber diese Sicherheit. Andererseits weißt du, dass genau diese Sicherheit dich nicht glücklich macht, aber die Gesellschaft möchte dich eigentlich auch lieber in Sicherheit wissen. Also kämpfst du im Prinzip gegen dich selber und die Gesellschaft zugleich.

Am Anfang ist es immer schwer. Ich habe zum Beispiel zuerst meine Flugtickets für Brasilien gekauft und es dann erst allen erzählt, weil ich wusste, dass sie mich dann nicht mehr abhalten können. Ich musste das auch für mich selbst tun. Im Endeffekt merkt jetzt auch jeder, dass es mir gut getan hat.«

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Woman in Portrait: Eine Interviewreihe mit Frauen in Rio de Janeiro und Minas Gerais | Brasilien