Daniela Caixeta Menezes

Leonie

Incontrare Südtirol begegnen

Cover Image for Leonie

Zugegebenermaßen: Einem Menschen mit der Frage aller Fragen – wer bist du? – zu konfrontieren, ja herauszufordern – und dann erwartungsvoll mit Stift und Papier da zu sitzen, um die bedeutungsschwere Antwort nüchternen Blicks detailgetreu notieren und sie später in eine Kolumne zu verpacken, grenzt eigentlich an eine Zumutung. Ich, die Autorin dieses Textes, mute mich samt dieser und weiteren Fragen meinen Gesprächspartner:innen zu, und zugleich noch etwas: sich selbst ganz genau unter die Lupe zu nehmen, zu erforschen, dem Ich auf den Grund zu gehen.

Ein paar Mal ist das schon gut gelungen, ich habe höchstens ein verlegenes Lächeln oder eine Bitte um Bedenkzeite geerntet, dann aber relativ schnell bekommen, was ich (hören) wollte: hallo, ich bin die/der, mache dies/das, würde mich beschreiben als xy, und Südtirol sehe ich soundso.

Bis ich Leonie treffe, die mir erstmal zu verstehen gibt: diese Frage ist verdammt schwierig, und dann ein paar Gegenfragen stellt, die sie kurzerhand selbst in einen größeren Kontext setzt: Wer bin ich biologisch oder spirituell? Wie soll ich über mich denken? Inwiefern kann ich (schon?) Verantwortung übernehmen?

Leonie ist eine fünfzehnjährige Südtirolerin, und ich erwähne ihr Alter deshalb derart prominent, weil es während unseres Gesprächs leicht in Vergessenheit geraten kann, denn wenn Leonie spricht, tut sie das bedacht, eloquent und mit dem wachen Geist einer ziemlich erwachsen wirkenden Jugendlichen. Einer Jugendlichen, die von sich selbst sagt, sie “versuche zu überleben”, während sie im Grunde das Gefühl habe, “keine Ahnung von gar nichts” zu haben. Ganz im Gegensatz zu den Erwachsenen, die Bescheid wüssten. (Ich muss schmunzeln. Naja.)

Das erklärte Ziel dieser Serie ist es bekanntlich, Südtirol in seiner Vielseitigkeit kennenzulernen und einer bunten Auswahl von Menschen zu begegnen. Dieses Mal soll endlich auch ein junger Mensch dieser Region zu Wort kommen; stellvertretend für jenen Teil der Bevölkerung also, der viel zu sagen, viele Ideen und Visionen hat für die eigene (und Südtiroler) Zukunft – aber leider nur selten dazu gefragt wird.

Und dass es sich dabei wahrhaftig um ein Leider, einen Missstand handelt, bezeugt der anregende Austausch mit der klugen jungen Frau. Umweltkrise, Diskriminierung, soziale Ungleichheit – wie so viele in ihrer Generation ist Leonie mit den gesellschaftlichen Debatten vertraut, mischt sich ein, hat eine klare Meinung: ein plumpes, bequemes “Weiter so” darf es ihrer Ansicht nach nicht geben.

Doch wenn es etwas gibt, das Leonie gehörig gegen den Strich geht, dann sind das Stereotypen. Deshalb hält sie auch nicht viel davon, wenn per se allen Jugendlichen ein Fortschrittsdenken samt moralischem Kompass bescheinigt wird; Rassismus, Homophobie und Schlechtmenschentum sei keine Frage des Alters.

Diese reflektierte, strukturierte Art zu denken, ist mehr als beeindruckend, und schon wieder kann ich gar nicht glauben, wer da vor mir sitzt. Aber vermutlich sind auch Weisheit und Vernunft keine Frage des Alters.

Wie bist du hierher gekommen?

Lesen, lesen, lesen – beim Frühstück, im Bus, heimlich in der Schule unter’m Tisch. Bücher sind für Leonie Anker und Reisebegleiter zugleich: lesend in andere Welten eintauchen, sie erleben, sich dem Woanders-Sein voll und ganz hingeben; dann das Erlebte, Durchlebte, Erforschte bewahren und in die echte Welt einspeisen, um das eigene Bewusstsein zu schärfen. So kommt es, dass griechische Mythologien neben queeren Jugendromanen in Leonies Bücherregal stehen – gleichberechtigt und in gleicher Weise inspirierend.

Die vielen Leben der Leonie. 14 Jahre aufwachsen in einem Dorf, dann Umzug in die Stadt, wo sie ein- und untertauchen, ihre bisher ungekannten Seiten entdecken und ausleben kann. Zwischendurch immer und immer wieder: ihr Parallelkosmos, ihre ganze, literarische Welt.

Quo vadis, Leonie? Und was wünscht du dir für Südtirol?

Da muss sie gar nicht lange überlegen: einen eigenen Buchladen möchte sie haben, ob hier oder anderswo, ganz egal. Hauptsache, ihre Leidenschaft zum Beruf machen.

Obwohl das mit dem Hierbleiben so eine Sache ist; ihre Heimat, wie sie jetzt ist, sieht Leonie kritisch. Zurück führt sie ihr gespaltenes Verhältnis zu Südtirol auf die extremen Unterschiede in der Gesellschaft: Da seien auf der einen Seite alte Menschen mit starren überholten Ansichten, die sich nicht bewegen und nicht lernen wollten. Und ihnen diametral gegenüber die junge Generation, die nicht stehen bleiben will, sondern neue und vielfältige Möglichkeiten sieht; der Leonie wohl aus der Seele spricht, wenn sie fordert:

»Ich habe das gute Recht, in einer Akzeptanz aufzuwachsen.«

Akzeptanz für andere Ansichten – vor allem von Jüngeren und Marginalisierten, damit ein Gespräch auf Augenhöhe entstehen kann; Akzeptanz für diejenigen, die dem stereotypischen, romantischen Bild Südtirols (Äpfel!) ein an die neuen Realitäten angepasstes entgegensetzen möchten: ein offenes Südtirol, respektvoll im Umgang mit all seinen Bewohner:innen und Gästen, mit bezahlbarem Wohnraum statt weiterer Hotels, mit einer Zukunft für alle – ja, besonders für die Jugend – und nicht nur für ein paar wenige Profiteure.

Wer, also, bist du, Leonie?

Leonie grinst, ihre dunklen Locken fallen ihr ins Gesicht. Mit angewinkelten Knien sitzt sie da und knabbert an einem Schokokeks.

»Zu leben und nicht zu wissen, wer man ist, ist wohl eines der schwierigsten Dinge,«

sagt sie nachdenklich, introspektiv, ihrem Ich auf den Grund gehend. Sie sagt es ganz selbstverständlich, als sei sie nicht einfach nur ein Teenager, sondern Simone de Beauvoir höchstpersönlich.

Wohl wahr, wohl wahr, denke ich, aber das Leben, das meistere sie doch schon bravourös – und sei es auch unwissend intuitiv, oder?

Wieder dieser konzentrierte Blick, die kleinen dunklen Augen huschen von links nach rechts, hinter der Stirn rattert es.

»Ich bin wie eine Glasscheibe: man sieht durch, ohne das Innerste zu sehen.«

Und genau das möchte sie auch beibehalten, ergänzt sie, weil sie das ganz allein, unabhängig von ihren Eltern gelernt habe: eben eine Glasscheibe zu sein.

Diese Scheibe fungiert auch als eine Art Schutz, mit dem sie sich wohlfühlt; ihr ganz persönlicher Rückzugsort, an dem sie weiter herausfinden kann, wer sie ist. Mit einer engagierten, lautstarken Mutter und einem Vater, der eher im Leisen operiert, schlummern beide Anteile in ihr. Darüber sei sie sehr froh, verkündet Leonie, die große Stücke auf ihre Eltern hält. Doch manchmal sei sie damit auch überfordert, beide Eigenschaften in sich zu tragen, sagt sie, etwas leiser.

»Dann frage ich mich, wer ich bis jetzt geworden bin und wie bzw. ob ich jemals etwas anderes sein kann.«

Dann muss Leonie, die Existenzialistin, sich den profanen Dingen in ihrem Leben widmen: Hausaufgaben machen, aufräumen, sowas eben.
In meine eigenen Gedanken versunken, schwinge ich mich aufs Rad und als die Kette nach einer Millisekunde vom Zahnrad springt, fluche ich nicht, sondern halte es – inspiriert von Leonies Lebensphilosophie – mit Sartre: Es ist nicht das, was es ist; es ist, was es nicht ist.