Gegessen wird, was übrig bleibt
Jedes Jahr werden in Deutschland 11 Tonnen Lebensmittel vernichtet. Dagegen regt sich immer mehr Widerstand. Auch in Münster gibt es viele gute Ideen und Initiativen gegen diese Form der Verschwendung.

Ein Freitagabend in der Münsteraner fairTEiLBAR. Der kleine Laden platzt aus allen Nähten. Dicht gedrängt stehen Menschen vor den Regalen und legen Lebensmittel in ihre Körbe. Manches davon ist unverpackt und lagert in durchsichtigen Behältern zum Selbstabfüllen: Reis, Mehl, Cerealien. In der Mitte ein Tisch mit Obst und Gemüse, in einem Kühlschrank Säfte und andere Getränke. In der Auslage hinter der Kasse warten Brot, Brötchen und Gebäck darauf, mitgenommen zu werden. Eine junge Frau kommt herein und zückt ihr Handy:
„Ich habe das vegane Angebot reserviert”, sagt sie, während sie eine App öffnet und einen Code vorzeigt. Wenig später hält sie eine Plastikkiste in der Hand: An diesem Abend rettet sie Lebensmittel, die andernfalls weggeworfen worden wären.
Über ⅓ aller Lebensmittel wird weggeworfen. In Deutschland sind das 313 kg pro Sekunde, weltweit 2,8 Mrd. Tonnen jedes Jahr. Damit ist Food Waste, also die Verschwendung von Lebensmitteln, für 10 % der Treibhausgase verantwortlich – deutlich mehr als die Luftfahrtindustrie. Zudem werden so Kosten in Höhe von 1,2 Mrd. US-Dollar verursacht.
Äpfel mit Dellen, Produkte kurz vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums, vom Tage übrige gebliebene Getreideerzeugnisse – jeden Tag entsorgen Supermärkte, Bäckereien, große wie kleine Unternehmen, aber auch Privathaushalte Unmengen an Lebensmitteln. Alles, was sich nicht mehr leicht verkaufen lässt oder nicht den ästhetischen Ansprüchen entspricht, landet vielfach in der Mülltonne.
Dabei ist vieles davon häufig noch genießbar und für den sicheren Verzehr geeignet. Doch das liegt nicht nur an unseren Lebensgewohnheiten in der Überflussgesellschaft. Auch die Politik hat ihren Anteil daran, indem sie strenge Gesetze und Vorgaben macht, was den Umgang mit Lebensmitteln betrifft. Ein Beispiel, das immer wieder die Gemüter erhitzt, ist das so genannte Containern- oder Mülltauchen-Verbot: Es ist gesetzwidrig, entsorgte, aber vermutlich noch genießbare Lebensmittel mitzunehmen, zum Beispiel aus Abfallcontainern von Supermärkten.
Gesetze, die ursprünglich dem Wohl der Konsument*innen dienen sollten, stellen viele Hindernisse dar und führen nicht zuletzt dazu, dass immer mehr Essbares weggeschmissen wird – während 828 Millionen Menschen auf der Welt Hunger leiden. Eine ungerechte, klimaschädliche und unnachhaltige Praxis.
„Oft noch länger gut”
Louise, die Lebensmittelretterin, will daran etwas ändern. Die App, mit der sie ihren Beitrag dazu leisten möchte, heißt „Too good to go”. Sie ist der weltweit größte Marktplatz für überschüssige Lebensmittel. Das Geschäftsmodell der GmbH mit Sitz in Berlin ist es, Nutzer*innen der App mit lokalen Betrieben zu verbinden, die am Ende des Tages noch unverkaufte Lebensmittel in ihren Regalen haben. Diese werden dann in Überraschungstüten verpackt und für einen stark vergünstigten Preis in die App gestellt, wo Menschen wie Louise sie mit einem Klick kaufen können. Außerdem hat das Unternehmen das Label „Oft noch länger gut„ ins Leben gerufen, das die Kund*innen darauf aufmerksam machen soll, dass Produkte oft nach dem Erreichen des Mindesthaltbarkeitsdatums noch einwandfrei genießbar sind.
Louise nimmt an diesem Abend das vegane Angebot für 9 – anstatt 32 – Euro mit: Haselnussmilch, Müsliriegel, diverse Snacks und vieles mehr. Die 24-jährige, die erst kürzlich von Köln nach Münster gezogen ist, strahlt, als sie aus dem Laden tritt. „Tatsächlich war das jetzt erst das dritte Mal, dass ich Lebensmittel gerettet habe.”
Eine Überraschung bekommen, Verschwendung vorbeugen und dabei auch noch Geld sparen: für Louise Grund genug, auf diese Weise einzukaufen. Anstoß dazu haben ihr vor allem YouTube-Videos gegeben, wo Gleichgesinnte auf der ganzen Welt sich für mehr Nachhaltigkeit engagieren und dazu ähnliche Angebote und Services nutzen. Lebensmittel retten ist cool, so die Botschaft. Auch Louises Freunde wollen das alle bald einmal ausprobieren. „Ich glaube, die Sensibilisierung für das Thema kommt wieder – auch wenn sie definitiv noch nicht da ist, wo sie sein sollte. Früher waren Lebensmittel viel wertvoller, weil die Menschen nicht so viel hatten. Diese Wertschätzung hat abgenommen, als es auf einmal super viel von allem gab.”
Die frischgebackene Münsteranerin wünscht sich, dass mehr Menschen Apps wie Too good to go ausprobieren und so auf einem relativ leichten Weg dazu kommen, mehr Lebensmittel zu retten.
Und dass sie wieder mehr darauf achten, was sie einkaufen und wie viel sie wegschmeißen.
Lebensmittel retten – auch gut für den Geldbeutel
Damit ist sie bei der fairTEILBAR an genau der richtigen Adresse. Das 2019 gegründete Unternehmen mit dem Laden auf der Hammer Straße ist seit einigen Jahren auf der Plattform aktiv. Fast jeden Tag lassen sich dort Angebote online kaufen und zu einer bestimmten Zeit abholen. Merle, zuständig für die Organisation des Ladens und Social Media, ist von der App überzeugt: „Für uns ist es ein softer Einstieg in die Lebensmittel-Rettung. Darüber erreichen wir Leute, für die es eine Hürde ist, einfach in den Laden zu kommen, ohne das System dahinter zu kennen.”
Und das System erklärt sich wie folgt: Merle und ihre etwa 10 Mitstreiter*innen setzen sich dafür ein, jedem Menschen, unabhängig vom Geldbeutel, den Zugang zu guten und geretteten Lebensmitteln zu ermöglichen – insbesondere in Zeiten steigender Preise. Gleichzeitig werden Ressourcen gespart, indem noch verzehrbare Lebensmittel nicht im Müll landen. Mit dem Einkauf betreibt man somit aktiven Klimaschutz.
Die fairTEILBAR funktioniert nach dem „Pay-what-you-feel”-Prinzip: viele Waren haben kein Preisschild, sondern der/die Kund*in gibt, was ihm/ihr das jeweilige Produkt wert ist. Preisempfehlungen helfen bei der individuellen Entscheidung. Nur in der eigenen Manufaktur Hergestelltes, wie Chutneys, hat einen Fixpreis.
Mittlerweile verfügt das junge Unternehmen über viele verschiedene Kooperationen – mit Höfen, dem Biogroßhandel, Supermärkten und großen Unternehmen.
Zu ihnen kämen immer wieder auch neue Gesichter, sagt Merle.
„Das macht unseren Laden auch besonders: Er ist ein Begegnungsort, weil ganz verschiedene Menschen zu uns kommen, die dann hier aufeinandertreffen – wobei dann manchmal schöne Gespräche entstehen.”
Aber kommen die meisten Menschen aus Überzeugung oder um zu sparen?
Merle lacht.
„Da gibt es sicher beides. Wir haben auch Kundschaft, die sich das Einkaufen ansonsten vielleicht nicht leisten kann. Da fungieren wir dann als eine Art Auffangsystem, das wir gerne sind – solange wir uns noch finanzieren können. Grundsätzlich kommen aber viele Menschen, die Lebensmittel retten wollen – die dann aus Solidarität auch schon einmal mehr zahlen, als sie müssten. Das freut uns natürlich am meisten, weil die Lebensmittelrettung unser Hauptziel ist.”
Sie glaubt, dass die Bürger*innen zum überwiegenden Teil empfänglich für das Thema sind und erwähnt die Crowdfunding-Kampagne, mit deren Hilfe sich die fairTEILBAR überhaupt erst gründen konnte. Die habe ihnen gezeigt, dass sie hier in der Stadt erwünscht seien.
Das Bewusstsein für Lebensmittelverschwendung wächst – auch in Münster
In Münster ist das Bewusstsein für nachhaltige Konzepte und Ansätze tatsächlich groß. Immer mehr Menschen wollen nicht nur wissen, wo das Essen herkommt, was bei ihnen auf dem Teller landet. Sie setzen sich auch kritisch mit den mächtigen Wirkweisen unseres kapitalistischen Systems auseinander, das über Jahrzehnte hinweg Überproduktion und ständige Verfügbarkeit aller Waren begünstigt hat.
Neben der fairTEILBAR gibt es noch weitere Initiativen, die sich stark machen gegen Lebensmittelverschwendung und für einen nachhaltigen Umgang mit unserer Nahrung, beispielsweise Foodsharing oder SlowFood Youth Münster.
Über die App Too good to go helfen zusätzlich noch viele weitere lokale Betriebe dabei, Abfälle zu minimieren und noch Genießbares unter die Münsteraner Bevölkerung zu bringen. Einer davon ist die Bäckerei Krimphove, die über das gesamte Stadtgebiet verteilt 19 Filialen betreibt. An einem Freitagabend lässt sich dort eine Überraschungstüte für 3,90 EUR erstehen, in der sich ein großes Vollkornbrot sowie 6 gemischte Brötchen finden. Warenwert: 8 EUR. Seit vier Jahren ist Krimphove auf der Plattform aktiv – in größeren Standorten mit sechs Überraschungstüten pro Tag, in kleineren mit vier. Fast immer sind alle Tüten vergriffen. Die Rechnung geht also gleich doppelt auf:
„Unsere Motivation liegt darin, unseren Kunden die Möglichkeit zu geben, Schnäppchen zu machen und dabei vielleicht sogar neue Lieblingsprodukte zu entdecken. Darüber hinaus möchten wir aktiv zur Reduzierung von Lebensmittelverschwendung beitragen. Die übrigen Backwaren werden teilweise an die Tafel gespendet, während der Rest über Refood in einer Biogasanlage verarbeitet wird”, teilt Jens Kitzhöfer, verantwortlich für Qualitätsmanagement und Digitalisierung im Unternehmen, auf Anfrage mit.
Doch wieso wird in Deutschland und weltweit eigentlich derart viel produziert, dass am Ende des Tages noch so viel übrig bleibt? In der Backbranche werde generell mit einer Rücklaufquote von etwa 10% kalkuliert, gibt Jens Kitzhöfer zu. Dies sei nötig, um dem Kunden kurz vor Ladenschluss noch ein kleines Sortiment bieten zu können.
Sind also letztlich wir, die Endkonsument*innen, Schuld an der Misere – oder war die Überproduktion zuerst da? Eine Henne-oder-Ei-Frage. Auch hier ist Jens Kitzhöfer transparent:
„Die Überproduktion war zuerst da. In vielen Branchen, einschließlich der Backindustrie, neigt man dazu, eine gewisse Menge zu produzieren.”
Damit eben zu jeder Zeit eine ausreichende Auswahl bereitstehe.
Selbst wenn viele diesen Wunsch vielleicht gar nicht hegen und sich womöglich gut damit abfinden könnten, dass es um 18 Uhr keine Unmengen an Backwaren mehr gibt. Zumindest für Menschen wie Louise würde das sicherlich kein Problem darstellen. Mit ihrem prall gefüllten Rucksack macht sie sich auf den Weg nach Hause, um die Leckereien Zuhause mit ihrem Freund zu verspeisen. Er hat sich gelohnt, ihr erster Münsteraner Rettungseinsatz für Lebensmittel.
Im Laden zurück bleibt Merle, die zig Aufgaben gleichzeitig jongliert. Über die Frage, was sie sich für die Zukunft wünsche, muss sie nicht lange nachdenken:
„Wir sagen auch immer, dass wir ein Laden sind, der sich selbst abschafft. In einer perfekten Welt müsste es uns nicht geben.”
Denn die fairTEILBAR sei aus einem Problem heraus entstanden. Und dieses Problem müsse dringend angegangen werden – auf den unterschiedlichsten Ebenen.
Links:
Münster nachhaltig: Netzwerk von Vereinen, Initiativen, Unternehmen, Stadtverwaltung, Universität, Fachhochschule sowie Bürger:innen, die sich für nachhaltige Lebensstile einsetzt.
fairTEiLBAR: Laden, Manufaktur und Workshops mit der Idee, Lebensmittel zu retten und diese möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen.
Foodsharing Münster: Die Gruppe gehört dem bundesweiten Netzwerk foodsharing.de an. Ziel ist, die Verschwendung von Lebensmitteln zu reduzieren.
Too good to go: Handy-App, über die sich unverkaufte Lebensmittel aus Geschäften und Restaurants retten lassen.
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Dieser Text ist im Februar 2024 im Münsteraner Straßenmagazin draußen! erschienen.