kreativsein

Mit dem rechten Auge kann der Cowboy nicht sehen, nur die buschige Augenbraue, die ist schon da, doch es wird niemals sehen können, das Gesicht mit dem krempigen Hut, wird niemals Pupille und Iris und Wimpern bekommen, der Pinsel ist bereits wieder am unteren Blattrand angekommen, zieht eine dunkle Linie über den cremigen Hals des Cowboys, der bald darauf nicht mehr zu erkennen ist.
Die Kinderfinger sausen über das Papier, flink, doch nicht sehr ordentlich, sie sind nun am Kinn angekommen, arbeiten sich daran ab, ein Farbklecks groß wie eine Traube spritzt auf die Lippen, die kleine Hand tupft mit einem Schwämmchen darauf herum, will das Malheur beheben, doch es ist schon zu spät, der Mund des Hutgesichts verschwimmt vor ihren ungläubigen Augen.
Hektisches Schrubben und Reiben und Wischen, dazwischen ein Schluchzer, unterdrückt, die Lehrerin soll es nicht merken, mehrmals hatte sie die Kinder gewarnt, keine Schmierereien, ein weiterer Schluchzer, Wasserfarben mit Vorsicht auftragen, hört sie die Lehrerin sagen, die jetzt durch die Reihen geht, sich über die Werke der Schüler beugt.
Die dunkle Farbe läuft übers Papier, das schon ganz aufgeweicht ist, tupf tupf, helle Farben braucht das Bild, die nervösen Kinderfinger tunken den dünnen Pinsel ins Glas, das Wasser ist schon ganz trübe, dann in das Kästchen mit der gelben Farbe, die schon gelbere Tage gesehen hat. Eine Indianerin soll es werden, jawohl, die Idee kommt dem Mädchen plötzlich in den Kopf geschossen, wie verflogen die Verzweiflung, es entweicht kein Schluchzer mehr.
Stattdessen fliegt der Pinsel mit der nicht mehr ganz so gelben Farbe übers Blatt, der Cowboy ist bald verschwunden, nur die dunkle Augenbraue löst sich nicht recht auf, doch das Mädchen hat eine Idee, rührt jetzt mit einem dickeren Pinsel im strahlenden Weiß und führt ihn behutsam über die Augenpartie, nach und nach kommt ein Frauengesicht zum Vorschein, an der Stelle des Hutes mit der großen Krempe ein prächtiger Kopfschmuck aus Federn und Perlen, rote und blaue und grüne Perlen, daran werkeln die kleinen Finger am Längsten, bunte Kugeln, die strahlen.
Das Kindergesicht strahlt mit den Perlen und der Indianerin um die Wette, bald ist die Farbe trocken und die Indianerin hängt an der Wäscheleine, zwischen Rittern und Löwen und Polizisten, ein wahrer Karnevalsreigen, umringt von zwanzig Paar Augen, Geschnatter und Kichern erfüllt den Raum, bis die Lehrerin sich räuspert und vor die Klasse tritt.
Langsam schreitet sie die Leine ab, verweilt hier und da, lächelt, lobt, erntet glückliches Glucksen, ist noch ein Bild entfernt, aufgeregt hüpft das Mädchen von einem Bein aufs andere, als die Lehrerin endlich bei der Indianerin angekommen ist, das Mädchen hält die Luft an, die Anspannung ist kaum auszuhalten, es kommt dem Mädchen vor wie eine Ewigkeit, als die Lehrerin endlich den Mund aufmacht, sie lächelt nicht mehr, auch liegt kein Lob auf ihren Lippen, nein, sie schüttelt kaum merklich den Kopf, schaut das Mädchen fragend an, habe ich nicht gesagt, Wasserfarben mit Vorsicht auftragen?, tadelt sie schließlich, wendet sich ab.