Eine syrisch-deutsche WG
Zu Gast bei Pastor Jan und seinem syrischen Mitbewohner Rauan, der seit Kurzem im Kirchenasyl ist.

Die Wohnung ist hell und geräumig. In der Mitte der Küche steht ein großer Holztisch, es gibt selbstgebackene Spekulatius und Kaffee. Jan schenkt sich eine Tasse ein, bevor er zu erzählen beginnt: von sich und seiner Arbeit, aber vor allem davon, wie es dazu kam, dass sein Mitbewohner bei ihm eingezogen ist. Wie die beiden da an diesem sonnigen Wintertag an einem Münsteraner Küchentisch sitzen, könnte man meinen, es handele sich um eine ganz normale Wohngemeinschaft. Nur mit dem Unterschied, dass die Wohnung der Kirche gehört und Pastor Jan hier mit einem Geflüchteten im Kirchenasyl wohnt.
Seit Oktober teilt er die Wohnung oberhalb des Pfarrbüros mit Rauan. Der 26-jährige Syrer, stammt aus der überwiegend von Kurden bewohnten Region im Norden des Landes. Mit 16 verließ er die Schule und floh vor dem Krieg in den Irak. Im Dezember 2021 machte er sich schließlich über den Iran und die Türkei auf nach Europa. Dabei wäre er beinahe in einem Kühllaster erfroren und erstickt. Als die rumänische Polizei ihn aufgriff, zwangen sie ihn, einen Asylantrag zu stellen, dessen Inhalt Rauan aufgrund der Sprache nicht verstand. Er durfte weiterreisen und kam im Frühjahr 2022 in Deutschland an.
„Hier geht es mir gut. Ich habe keine Angst mehr, ich bin in Sicherheit”, sagt Rauan und seine Augen leuchten.
Doch ob er hier bleiben darf, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Die deutschen Behörden versuchten, ihn nach Rumänien abzuschieben, wo Rauan seinen Erstantrag gestellt hat. Mit Blick auf die fragile menschenrechtliche Situation dort, das nur schwach ausgeprägte Sozialsystem und die Tatsache, dass Rauan über keinerlei Kontakte in diesem Land verfügt, hat das Netzwerk Kirchenasyl sich für einen Stopp der Abschiebung eingesetzt. So ist er vorerst hier in der Münsteraner Gemeinde untergekommen.
Aber was bedeutet das überhaupt: im Kirchenasyl sein?
Im Rahmen des Kirchenasyls werden Geflüchtete, denen bei einer Abschiebung Folter, Tod oder menschenrechtswidrige Härten drohen, für einen befristeten Zeitraum in den Räumen einer Kirchengemeinde aufgenommen. Während dieser Zeit wird ein Schutzraum eröffnet, damit die betroffenen Personen nicht abgeschoben werden können – in 95 % der Fälle in NRW mit Erfolg. Die jeweilige Gemeinde informiert zu Beginn die Behörden unverzüglich über die Gewährung von Kirchenasyl.
Bett, Brot und Beziehungen
Als Pastor Jan, der sich schon länger in diesem Bereich engagiert, in Münster ankam und signalisierte, seine Wohnung mit einem Menschen in Not teilen zu wollen, wurde die Gemeinde aktiv. Gemeinsam mit dem Netzwerk Kirchenasyl Münster, das über die notwendige Expertise bezüglich aller Formalitäten verfügt, wurde geklärt, ob für Rauan ein Kirchenasyl in Frage käme. Für die Aufnahme eines Schutzsuchenden gelten die drei B’s: Bett, Brot, Beziehungen – Kriterien, die Jans Gemeinde erfüllt. Am Ende beschließt die Gemeinde, Rauan in ihrer Mitte aufzunehmen.
Die Entscheidung sei ihnen nicht schwer gefallen, sagt Kaplan Jan. Zum einen, weil Rauan wegen seines Herkunftslandes eine gute Bleibeperspektive hat, d.h. sein Asylantrag wird aller Voraussicht nach positiv ausfallen. Außerdem wohnen bereits weitere Familienangehörige in Deutschland, eine Tante sogar im Nachbarort. Und zudem waren Rauan und der Kaplan sich auf Anhieb sehr sympathisch.
Die Sympathie ist nicht zu übersehen. Sie erzählen von ihrem gemeinsamen WG-Alltag, den sie mit Gesprächen über Gott – und Allah – und die Welt, Mühle-Spielen und gemeinsamen Abendessen füllen, meist von Rauan zubereitet. Es ist ein gegenseitiges Lernen, jeden Tag, wie sie betonen: Rauan lernt von Jan, was es mit deutscher Grammatik auf sich hat, Jan taucht mithilfe von Rauans Erzählungen in dessen kurdische Kultur ein. Sich füreinander zu öffnen, zu erkennen, dass es mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes gäbe – das macht für die beiden ihr Miteinander aus.
Laut der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche befanden sich Ende Oktober 629 Menschen deutschlandweit im Kirchenasyl, 97 davon Kinder. 425 der Kirchenasyle sind sogenannte Dublin-Fälle (siehe Infokasten). In Münster engagieren sich vier Gemeinden aktiv im Kirchenasyl. Der Bedarf ist um Einiges höher.
Auch für das Kirchenasyl sind die in der Verfassung und im internationalen Recht geltenden Rechtsnormen verbindlich. Die für die Kirchengemeinde handelnden Personen müssen demzufolge bereit sein, die volle Verantwortung zu tragen. Das erklärt das Zögern vieler Kirchengemeinden: Sie leisten im Grunde zivilen Ungehorsam, indem sie sich gegen die Entscheidung der Behörden stellen. Zudem bringt ein Kirchenasyl natürlich auch einen administrativen und organisatorischen Aufwand mit sich. Alles Gründe, die eine Gemeinde berücksichtigen muss.
Zeichen setzen gegen rechte Stimmungsmache
Doch nicht jeder in Deutschland heißt Menschen wie Rauan willkommen.
In den letzten Monaten ist der Ton gegenüber Menschen, die hierher geflohen sind, rauer geworden. Viele in Deutschland sagen, die Belastungsgrenze – für Kommunen, für unser Sozialsystem, für ein friedliches Miteinander, für gelingende Integration – sei erreicht. Gleichzeitig treibt Deutschland die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) voran, viele zivilgesellschaftliche Akteure fürchten Kompromisse auf Kosten des Flüchtlingsschutzes.
Jan hält die Verschärfungen des Asylsystems für gefährlich und hat wenig Verständnis für ‘Das Boot ist voll’-Polemik. Er sieht eine massive Diskursverschiebung zugunsten rechter Parolen.
„Dabei sind die Geflüchteten nicht der Grund für die Krise, in der wir stecken. Es sind die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus, die Art und Weise, wie wir zusammenleben. Mutter Erde könnte 10 Milliarden Menschen ernähren, wenn wir das, was zur Verfügung steht, gut verteilen würden. Wir schauen runter auf die noch Ärmeren und sagen: Das ist die Bedrohung, anstatt den Blick auf diejenigen zu richten, die sich alles unter den Nagel reißen.”
Natürlich dürfe niemand zurückgelassen werden, gerade nicht die, die eh schon prekär lebten. Aber die Geflüchteten würden aus rassistischen Motiven zu Sündenböcken gemacht, so sieht er das. Dabei verlasse doch niemand freiwillig seine Heimat, sondern fliehe, wie Rauan, vor Bomben, vor Terror oder Perspektivlosigkeit.
„Menschen werden zum Surplus-Proletariat gemacht, das völlig abgeschottet und abgenabelt von allen Prozessen unserer gesellschaftlichen Existenz dann ihr Dasein fristen und möglichst weggedrückt werden soll. Wir sagen ganz klar: da können wir als Christinnen und Christen nicht mitmachen. Wir stellen den Mensch in den Mittelpunkt”, sagt Pastor Jan.
Wenn man, wie er, erstmal in den Austausch mit einem Schutzbedürftigen komme, sehe man den Menschen vor sich – und nicht ein Problem. Für ihn stellen Menschen wie Rauan eine Bereicherung für die Gesellschaft dar.
Mit seinem Engagement im Kirchenasyl möchte Pastor Jan aufmerksam machen auf die unmenschlichen Fluchtbedingungen und das Leid der Geflüchteten. Er hofft, dass diese gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und die rassistischen Ressentiments aufhören und endlich die Fluchtursachen stärker in den Blick genommen werden.
Solange setzt er sich weiterhin unermüdlich für Rauan und andere Geflüchtete ein. Gerade für ihn als Kirchenmensch sei es nicht zuletzt aus mitmenschlichen Gründen geboten, Menschen in Not zu helfen.
Und was sind Rauans Wünsche für die Zukunft?
„Mein Ziel ist die B1-Prüfung, um danach eine Ausbildung als Heizungsinstallateur oder Elektriker zu beginnen. Ich möchte sehr gern hier in Münster bleiben.”
Manchmal sei es noch schwierig mit der Verständigung, obwohl Rauan beeindruckende Fortschritte gemacht habe, sagt Jan. Bis dahin nehmen die zwei ihre kommunikativen Herausforderungen mit viel Humor, Geduld und gegenseitiger Freundlichkeit.
Draußen hat die Dämmerung bereits eingesetzt, im Vorgarten glitzern Schneereste im letzten Licht des Tages. Jan und Rauan stehen vor dem Haus und winken zum Abschied, bevor sie sich ihren abendlichen Aufgaben und Plänen widmen. Eine ganz gewöhnliche Wohngemeinschaft eben.
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Dieser Text ist im Januar 2024 im Münsteraner Straßenmagazin draußen! erschienen.