Daniela Caixeta Menezes

ich bin

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Man steht voreinander, zieht für einen Moment in Betracht, sich zu umarmen, nicht innig natürlich, nur flüchtig und schnell, absichtlich ein bisschen steif, um den gebührenden Abstand zu wahren, doch man hegt Zweifel und lässt es dann lieber ganz – im stillen Einverständnis, versteht sich.

Die Hand, eben noch geschüttelt, steckt tief in der Tasche, ein wenig schwitzig, der Daumen gräbt sich ins weiche Innenfutter.

Lang liegt es zurück, das letzte Aufeinandertreffen, Abiball, zweites Klassentreffen?, es klingelt nicht, kein Bild schiebt sich unmittelbar ins Gedächtnis, wie könnte es auch?, lang ist’s her und seitdem viel passiert. Jahre, gefüllt mit Umbrüchen und ungezählten ersten Malen, Probeläufen, Versuchen, wie es sie nur in diesem Lebensabschnitt gibt. Man steht voreinander, lächelt bemüht, der Blick tastet sich vorsichtig heran, die Haltung, die Kleidung, das Gesicht, auf ihm zeigen sich die Spuren der Zeit, unweigerlich wird abgeglichen: wer ist mehr gezeichnet?

Ungelenk, die Begrüßung, mit unnatürlich hoher Stimme wird sich nach dem Wohlergehen erkundigt, die Hände bleiben in den Taschen, nur keine aufgesetzten Gesten und unbeholfenen Bewegungen jetzt.

Dann das kurze Schweigen, man ist peinlich berührt, bevor es losgeht mit den Fragen, mit diesen Fragen, den erwartbaren. Freilich war damit zu rechnen, schließlich sind Jahre vergangen, Jahre, in denen viel geschehen sein wird, über die es einiges zu sagen geben muss.

Was bist du, was machst du?, die Fragen aller Fragen, was ist aus einem geworden, Lehrer, Ärztin, Anwalt?, man hat es doch immer schon gewusst, gewollt, sich darauf vorbereitet, nicht wahr?

Still jagen sich im Kopf die Gedanken, was erzählen, was lieber nicht?, ist ein klitzekleines Flunkern erlaubt? Doch zunächst der kluge Schachzug: die Gegenfrage, das verschafft Zeit, zeugt von echtem Interesse am Gegenüber. Und tatsächlich wird groß ausgeholt, Haus, Familie, Karriere, da gibt es wahrlich Tolles zu berichten, also lässt man reden, hört zu, fragt nach, immer wieder, auch das ein geschicktes Instrument, um hinauszuzögern, was am Ende vielleicht sogar vermeidbar bleibt: antworten zu müssen auf die Fragen aller Fragen, ganz gewöhnliche Fragen, wenn man ehrlich ist, harmlose, ungefährliche, unverfängliche Fragen. Auch man selbst beschäftigt sich mit ihnen, tagein tagaus, blendet sie nicht aus, stellt sich ihnen wie Nicht-Schwindelfreie dem ausgesetzten Grat. Der erste Schritt wird noch getan, und der zweite, doch vor dem dritten zögert man, windet sich, lieber zurückgehen zum sicheren Stand.

Irgendwann, so schwört man sich, irgendwann geht man einfach und dreht sich nicht um, geht weiter auf diesem Grat, macht nicht kehrt, blickt nicht zurück, geht geradewegs auf sie zu, auf die Fragen aller Fragen: was bist du, was machst du, was ist aus dir geworden?

Ich bin. Ich bin. Ich bin. Punkt.