Gewitterzeiten
Der Himmel ist von einem Moment auf den anderen so schwarz, dass Anni sich ungläubig die Augen reibt. Das hat sie in ihrem ganzen neuneinhalbjährigen Leben noch nicht erlebt. Riesige Wolken hängen wie dunkle Wattekugeln über ihrem Kopf, Anni will sie von sich drücken, aber es gelingt ihr nicht, sie kommen immer näher. Bald kann sie nicht einmal mehr ihre eigenen Hände erspähen.
Von irgendwoher schallt die Stimme ihrer Mutter zu ihr, sie will antworten, aber die schwarze Luft erstickt jeden Laut und läuft langsam den Rachen hinunter. Mit jedem Atemzug strömt mehr vom Außen in ihre Lungen. Sie glaubt, darin zu schweben, wie eine Astronautin im All. Ihr Herz klopft wie wild, aber sie rührt sich nicht. Wo hätte sie auch hingehen sollen? Rechts und links, vor und hinter ihr: nichts als tiefste Nacht.
Sie streckt die Arme zur Seite. Mit der linken Hand ertastet sie einen Baumstamm, kann die Rillen der harten Rinde fühlen. Sie atmet auf, lehnt sich dagegen, die Panik legt sich ein wenig.
Dann, wie auf Knopfdruck, wird es wieder heller um sie herum, als wäre ein Scheinwerfer auf sie gerichtet. Sie blickt an sich herab, um sich ihrer Gliedmaßen zu vergewissern, die sie bereits im All geglaubt hat, berührt zuerst den linken und dann den rechten Oberschenkel, es fühlt sich normal an. Sie spürt, wie ihre Beine fest auf dem Untergrund stehen, wie das Blut in ihren Armen zirkuliert.
Der Lichtkegel des Scheinwerfers weitet sich, sodass Anni ein paar Meter weit gucken kann. Sie wagt den Blick in den Himmel, er ist unverstellt, das Gewitter ist bauschigen Wölkchen im zarten Hellblau gewichen. Knallbunte Vögel ziehen durch die Luft, ihr lautes Gezwitscher dringt zu Anni herüber; Hummeln so groß wie die Faust ihres kleinen Bruders fliegen summend um ihren Kopf herum.
Und dann vernimmt Anni ein tiefes, melodisches Geräusch, es klingt wie das Muhen einer Kuh, und im nächsten Moment schlurft ein Tier an ihr vorbei, das zwar aussieht wie eine Kuh, aber Schuppen auf dem Rücken hat. Anni reißt den Mund weit auf, streckt die Arme aus, um das merkwürdige Wesen zu berühren, aber sie greift ins Leere und verliert für einen Moment das Gleichgewicht. Sie stolpert, fällt hin und als sie wieder aufstehen will, trabt ein großes Pferd den Weg entlang. Seine Mähne schimmert im Sonnenlicht, türkis und pink und silber, es wiehert genüsslich, stupst sanft mit der Nase gegen die Stirn des Kindes. Anni spürt den warmen Atem des Tieres auf der Haut, reibt ihre Wange an den Pferdenüstern, die sich aufblähen, wenn die Luft herausströmt.
Sie hätte ewig so verharren können, das Gesicht tief im weichen Fell vergraben, die in allen Farben des Regenbogens leuchtenden Zotteln über sie gelegt wie ein Baldachin. So überraschend, wie das schöne Pferd erschienen ist, verschwindet es auch wieder, und Anni bleibt allein zurück. Sie sitzt noch immer auf dem Boden, kneift die Augen fest zusammen, blinzelt kurz und schließt sie wieder, doch weder die eigentümliche Kuh noch das Pferd tauchen wieder auf.
Anni lässt den Kopf auf die Brust sinken, der plötzlich an Gewicht zugenommen hat. Ob ihre Mutter noch immer in ihrer Nähe ist?
Als es ihr gelingt, den Kopf wieder zu heben, tritt ein Rudel Hunde aus der schwarzen Nacht in ihr Sichtfeld, drei, nein vier Tiere, sie rennen, tollen umher, bellen. Wie sie mit ihren Schwänzen wedeln, machen sie einen freundlichen Eindruck, denkt Anni. Als die Gruppe immer näher kommt, erkennt sie einen Labrador, der viel riesiger ist als alle Hunde, die sie bisher gesehen hat, gefolgt von einem Retriever mit gold funkelndem Fell und einem einäugigen Dackel. Ein wild gefleckter Dalmatiner schleckt mit seiner nassen Zunge über Annis Arm, es kitzelt, was sie zum Lachen bringt. Der Dalmatiner tut es ihr gleich, ein grelles Lachen, in das der Golden Retriever mit dunklem Bass einstimmt. Schließlich verfallen auch der Dackel, der Labrador und selbst die Kuh und das Pferd, die plötzlich wieder da sind, in schallendes Gelächter; selbst die Hummeln und die knallbunten Vögel wechseln von ihrem Gesang in Gekicher.
Anni steht auf, macht einen Schritt, dann noch einen; im Gras vor ihren Füßen sieht sie allerlei Getier wuseln, rote Käfer, lila Ameisen, ellenlange Regenwürmer. Sie bleibt stehen, dreht sich um, kann jetzt wieder klar und deutlich den Horizont erkennen. Wo ist die Straße hin?
Der Golden Retriever lacht sein bassiges Lachen, macht einen großen Satz und landet im Bach, der glasklares Wasser führt und den Anni erst jetzt bemerkt. Winzige Luftbläschen erscheinen auf der Oberfläche, ein kleiner Goldfisch springt in die Höhe, grüßt Anni mit gespitzten Lippen und verschwindet dann wieder in den sanften Stromschnellen.
Anni folgt dem Bachlauf flussaufwärts, bald wandert sie durch einen dichten Wald. Sie reckt den Hals, um bis in die Baumkronen sehen zu können, aber die Bäume sind einfach zu hoch, besonders die majestätischen Tannen mit ihren dunkelgrünen Nadeln ragen weit hinauf bis fast in den Himmel. Die Äste der Birken und Weiden wiegen sachte im Wind, in den Blättern raschelt es vom geschäftigen Treiben der Waldbewohner.
Sie erschrickt, als etwas ihre Füße berührt, ein Hase? Eine Echse? Eine Mischung aus beidem? Das sonderliche Tier hüpft davon und Anni geht summend weiter, was gibt es nicht alles zu entdecken! Dann, als sie aus dem Wald heraustritt: ein Haus, es ist aus hellem Holz gebaut, mit einer Fassade, die aus abertausenden Pflanzen besteht. So etwas hat Anni in ihrem ganzen neuneinhalbjährigen Leben noch nicht gesehen!
Auf einmal verspürt sie irrsinnige Lust, barfuß über die Wiese zum Haus zu laufen. Flink krempelt sie ihre Hosenbeine hoch und zieht die Schuhe aus. Ihre nackten Füße sinken ein im feuchten Boden, Grashalme streifen ihre Knöchel. Ihr Körper kribbelt.
Vor ihren Augen flattert ein Zitronenfalter auf und ab, dreht er Pirouetten? Anni beginnt ebenfalls zu tanzen, dreht sich um die eigene Achse, wirft die Hände in die Luft und lacht, bis sie aus der Puste kommt und sich ins nasse Gras fallen lässt. Sie nimmt zwei tiefe Atemzüge, die Luft schmeckt rein und frisch.
Während sie glucksend im Gras liegt und eine fast durchsichtige Nacktschnecke beim gleichmäßigen Kriechen beobachtet, wird sie von einem Moment auf den nächsten von einer unbändigen Müdigkeit übermannt. Irgendetwas drückt ihre Augenlider herunter, ohne dass Anni sich dagegen wehren kann, auch ihre Arme und Beine haben das Gewicht von Blei. In Annis Kopf breitet sich eine angenehme Leere aus. Wie schön das Surren klingt, denkt Anni noch, das sie in einen tiefen Schlaf geleitet.
Das Knattern eines Motorrads weckt sie. Langsam öffnet sie die Augen, noch immer ist sie sehr müde. Um sie herum hat sich eine Menschentraube gebildet. Alle starren sie an. Sie bemerkt, wie sich neben ihr etwas bewegt: es ist der Regenwurm, auf seine natürliche Größe geschrumpft, er kämpft sich zwischen zwei Pflastersteinen empor. Da, ein Geräusch, ein kleines Quieken, bevor der Wurm sich davon schlängelt.