Daniela Caixeta Menezes

genugsein

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Auf Tuchfühlung soll ich gehen, hat sie gesagt, mich selbst spüren, in mich hineinhorchen. Also sitze ich im Schneidersitz auf dem Boden, habe mir ein weiches Kissen unter den Po gelegt, das harte Holz soll mich nicht von der Tuchfühlung abbringen.

Ich sitze und lausche, sitze ganz still, halte die Luft an, spitze meine Ohren, und höre: nichts. Nichts und niemand spricht mit mir, dabei hat sie doch gesagt, wenn ich mit mir selbst säße und zur Ruhe käme, würde ich mich spüren, würde hören, wie es zu mir spricht: das innere Kind.

Doch wie mir scheint, ist dem Kind nicht nach Sprechen zumute, so viel ich auch horche, angestrengt, Luft anhaltend, es rührt sich nicht. Ich versuche, zu spüren, ich stelle mir vor, wie ich eine Leiter herab klettere, immer tiefer, bis ich ganz unten angekommen bin, in meiner Seele, in meinem Herzen oder wo auch immer der Ort ist, in den ich tief hineinhorchen soll.

Noch immer tut sich nichts, meine Kletterei führt ins Leere, mein Horchen wird verschluckt von den lauten Gedanken, die im nächsten Moment wieder mein Bewusstsein erfassen. Wie in einer Zentrifuge werden sie durch die Gegend geschleudert, ohne dass ich den Ausschaltknopf finden kann; spätestens jetzt ist das innere Kind wohl so sehr verschreckt, dass es sich wieder dahin zurückgezogen haben muss, wo es hergekommen ist, wo es sich all die Jahre über versteckt, wo es Zuflucht gefunden hat: in die hinterste Ecke des Gedächtnisses, dahin, wo sich unliebsame Erinnerungen tummeln, Traumata, angelegt in verschachtelten Formationen, einem Labyrinth ähnlich.

Rede mit ihm, höre ich sie sagen, horch in dich hinein und nimm Kontakt auf mit dem kleinen Mädchen, also nehme ich einen tiefen Atemzug, ein letztes Mal will ich es probieren. Ich spanne die Muskeln in meinen Beinen an, will nichts unversucht lassen, vielleicht strenge ich mich nicht genug an, wo bist du, inneres Kind, zeig dich und sprich zu mir.

Gedanken kommen und gehen, wie kleine Wölkchen schweben sie an mir vorbei, bleib mit deiner Aufmerksamkeit bei dir, hat sie mir eingebläut, also sitze ich auf meinem Kissen und lasse die Wolken vorüberziehen, eine nach der anderen, das Kind zeigt sich trotzdem nicht.

Ich spüre, wie ich müde werde, meine Konzentration lässt nach, fast bin ich jetzt wütend, auf mich, auf sie, auf das innere Kind, das partout nichts mit mir zu tun haben will, obwohl es doch alles mit mir zu tun hat.

Geduld, Geduld, hat sie gesagt und dabei ihre schönen Hände im Schoß gefaltet, ja, ich muss geduldig sein, das Kind ist nun mal ein Kind, klein, zart, verletzlich, das Kind braucht Schutz und Zutrauen und Vertraulichkeit. Ich sehe das Kind vor mir, wie es auf dem Boden liegt, es schreit und tobt und brüllt, bis es nur noch tonlos schluchzen kann, die Kraft ist ihm ausgegangen. Das Gesicht rot, die kleinen Äuglein geschwollen, das Haar klebt nass an den Schläfen, einmal bäumt es sich noch auf, ein letztes Wimmern verlässt seine Kehle, und dann ist es still.

Ich harre noch immer dort aus, im Schneidersitz, schlucke meinen Groll herunter, möchte geduldig sein. In Gedanken breite ich die Arme aus, das Kind soll sich willkommen, geborgen fühlen, ich horche und horche, warte, während sich die Wut langsam verzieht, du bist hier sicher, flüstere ich dem Kind zu, alles ist gut. Ich spüre etwas auf meiner Wange, es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass es eine Träne ist, dass ich dort sitze und weine, alles ist gut, flüstere ich erneut, alles ist gut, du bist sicher, du bist genug.