Daniela Caixeta Menezes

europa

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Die Göttin Europa trägt ein schillerndes Gewand, wunderschön ist sie, anmutig lächelnd auf jeder ihrer Abbildungen. Europa, antike Göttin, Namensgeberin unseres Kontinents und eines bemerkenswerten, von Erdenbürgern angestrebten Konstrukts. Wenn sie nur wüsste, denke ich, wenn sie nur wüsste, wofür sie herhalten muss.

Ja, ich bin ungerecht, so Vieles läuft doch gut, sagen die Verfechter einer Idee, die – zugegebenermaßen – glorreicher nicht sein könnte: viele Nationen zu verbinden, die doch trotz aller Unterschiede in ihrer Prägung ein und demselben Kulturkreis angehören, sie unter einem schützenden Dach versammeln, für mehr Wehrhaftigkeit, einem zähen Ringen um politisches Gewicht. Zusammenbringen, was über jeden Zweifel erhaben zusammengehört, den Austausch fördern, Erasmus,Sprache, Kunst, Kultur, Wirtschaftsströme, gar eine gemeinsame Währung.

Wenn doch bloß die Menschen nicht wär’n, die weitestgehend ahnungslosen Menschen, mit ihren Vorstellungen und Träumen von Europa, Menschen auf der Suche nach jenen Verheißungen, die die Brüsselianer in ihre Papiere schreiben, bedacht formulierte, verklausulierte Schachtelsätze, deren Kondensat Großes verspricht: Sicherheit, Wohlstand, Freiheit – freies Zirkulieren von Waren, von Dienstleistungen, freie Wahl von Wohnorten, Arbeitsplätzen und Reisen der Menschen.

Europa, die schöne Göttin, bürgt mit ihrem Namen, auch wir wollen daran glauben, klammern uns fest an wohl klingenden Werten, mehr Freiheit, wem taugt das nicht?

Gehen wir ein paar Schritte, Göttin Europa untergehakt, vorbei am beeindruckenden Gehäuse, das die tüchtigen Brüsseler hochgezogen haben, werfen wir einen genaueren Blick auf das Werk, schauen hinein, dorthin, wo das Innere Europas liegt: das Herzstück eines Ganzen von siebenundzwanzig Einzelteilen. Tatsächlich, dort sehen wir es, es klopft und pulsiert, es ist lebendig, die imaginierte Gesellschaft, von der Benedict Anderson spricht, ist Fleisch geworden.

Doch was ist das?, plötzlich stoppt es, es schlägt nicht mehr, das Herz, dreißig Sekunden Stille, bevor – zaghaft – das rhythmische Klopfen von Neuem beginnt. Göttin Europa, ihr schönes Gesicht bleich wie Milch, muss sich setzen, hält sich den Leib, das Schicksal ihrer Namensvetterin hat ihr kräftig zugesetzt. Hat sie denn nicht davon gewusst? Von den abrupten Unterbrechungen, dem Herzstillstand, der Kraftlosigkeit? Weiß sie denn nicht Bescheid, über den Zustand Europas, darüber, wie die nach ihr benannte Idee mit Füßen getreten wird, das Papier nicht wert ist, auf dem ihre Gründung feierlich festgehalten wurde?

Sie hatte doch keine Ahnung, bringt Europa, die Göttin, schließlich über die Lippen, sie sind dünn wie ein Strich und haben jede Farbe verloren.

Tatsächlich: Im Verborgen liegen die unsäglichen, abertausenden Ausnahmeregelungen und Zusatzerklärungen, von ängstlichen Vertretern der Nationalstaaten mit pessimistischem Menschenbild aufgetürmt zu einem Koloss, einem nahezu undurchdringlichen Dickicht, das unpassierbar scheint. Woher, wohin, warum – drei Fragen, unschuldig in ihrer Etymologie, grausam in der Anwendung. Der leidige Pass, er entscheidet in Windeseile über Gut und Böse, nicht mal eine Heirat hebt diesen selbstzerstörerischen Irrsinn auf. Europa, der Bund im demografischen Niedergang, beraubt sich seiner eigenen Zukunft, indem er ungeahnte, unzählige, vielfältige Möglichkeiten mit Füßen tritt.

Die Göttin will das alles nicht verstehen, wohin?, fragt jetzt auch sie, wohin und warum?, ruft sie ihrer Namensvetterin zu, doch die hat sich bereits von ihr abgewendet.