Die Kamera

Zum zehnten Geburtstag schenkt der Vater dem Mädchen eine Kamera. Eine kleine schwarze, ohne jeden Schnickschnack, was soll eine Zehnjährige auch mit ausgefeilten Funktionen und Extras? Nein, ein simples Gerät ist es, das Herz des Kindes schlägt Purzelbaum: eine eigene Kamera, was hat das Mädchen diesen Moment herbeigesehnt, all die Jahre über, in denen der Vater sich auf Ausflügen – ganz gleich, ob bei Wanderungen in der Natur oder Spaziergängen durch die Stadt – langsam zurückfallen lässt, wenn seine aufmerksamen Augen ein besonders lohnendes Motiv entdecken.
All die Jahre über, in denen dem Mädchen nicht ein einziger dieser Momente entgeht, so gebannt beobachtet es den Vater: wie er seine schöne Kamera behutsam aus der eigens dafür vorgesehenen Umhängetasche zieht, eins der schweren Objektive aufschraubt, bevor seine Finger flink an den zahlreichen kleinen Rädchen und Ringen drehen und verschiedene Knöpfe drücken, bis dem Mädchen ganz schwindelig wird.
Und dann wartet er, minutenlang, bisweilen vergeht eine Viertelstunde, in der er nichts anderes tut, als durch den Sucher der Kamera zu schauen und den richtigen Augenblick abzupassen: ein Foto ohne Menschen, das Sujet diffus oder tiefenscharf perfekt ausgeleuchtet, arrangiert, komponiert – jedes Bild ein Kunstwerk.
Wenn der Vater dann den Auslöser drückt, atmet das Mädchen erleichtert aus, beinahe so, als wäre es der Körper des Kindes, der dort regungslos verharrt, als wären es die Kinderaugen, die durch das kleine schwarze Loch hindurch auf den Ausschnitt der Welt blicken.
All die Jahre über vollzieht sich das Prozedere, das schon bald zum Ritual werden würde. Der Vater, der Künstler, und das Mädchen, mit leuchtenden Augen begrüßt es ihn, wenn er mit dem prall gefüllten Umschlag nach Hause kommt. Wieder vergisst es vor Aufregung zu atmen, das Kind, während der Vater die entwickelten Fotos hervorzaubert, eins nach dem anderen, und dieser Moment ist tatsächlich voller Magie, jedes Bild ein Kunstwerk, das Motiv, das Licht, ganz ohne Menschen!
All die Jahre.
Bis das Mädchen die eigene Kamera in seinen kleinen Händen hält, mit Argusaugen wacht es über sie, umklammert sie fest wie einen Schatz. Dann, die erste Reise, das Kind rennt von Motiv zu Motiv, atemlos, hält nur kurz inne, um den Auslöser zu drücken, kümmert sich nicht um Licht und Menschen, will einfach nur alles einfangen, festhalten, klack klack macht es, dreht an der Spule, die einrastet, bevor es weitergeht. Mit der Kamera in der Hand jagt das Kind durch den Tag, könnte glücklicher nicht sein, die Berge, das Gras, selbst ein paar Ziegen, die vor die Linse laufen, werden auf Zelluloid gebannt für die Ewigkeit
Papa, Papa, rennt es dem Vater entgegen, Füße und Worte überschlagen sich, Papa, Papa, ruft es, zückt keuchend die kleine Kamera, das Geschenk des Vaters, nestelt am Gehäuse herum, bis es aufspringt, zieht die Filmrolle heraus, hält sie dem Vater hin.
Papa, Papa, schau mal, meine Fotos.
Auf dem vor Aufregung geröteten Gesicht der Stolz der ganzen Welt.