Die Gardine
Sie fristet ein trauriges Dasein, die Gardine. Ihr vormals weißes Haupt ist mit der Zeit einem gelblichen Grau gewichen. Zusammengerafft hängt sie leblos in der Ecke, in ihren Falten sammelt sich der Staub von Jahren.
Was hat sie nur alles gesehen, welch turbulente Zeiten erlebt, auch ein paar ruhige waren dabei, golden vielleicht, hier in dieser kleinen Stadt unweit vom Meer. Begleiterin einer halben Epoche, vielleicht.
Tapfer hält sie sich, eingehakt in die altmodische Deckenschiene. Wann wurde sie wohl das letzte Mal bewegt, diese Gardine, auf und zu und auf und zu, wenn überhaupt, um das Treiben im Innern abzuschirmen von den Blicken dort draußen, Blicke wie der unsrige, auf das geziegelte Häuschen, während wir warten?
Vermutlich war sie von Anbeginn als Zierde gedacht, die Gardine, dort in ihrer Ecke, etwas, um das kleine Fenster zu schmücken, ihm einen würdigen Rahmen zu schenken, wo es doch nur auf kalte Gleise blickt.
Hat sie sich ihre Existenz so vorgestellt, die Gardine? Jahrzehntelang in einem kleinen, schmucklosen Fenster einer kleinen, unbedeutenden Bahnhofshalle zu hängen, selten gewaschen, kaum beachtet, verkommen zur Statistin – an einem trostlosen Ort?
Was hätte nicht alles aus ihr werden können, aus unserer Gardine, diesem weißen Stück Stoff, am unteren Ende mit zarter Spitze besetzt, beileibe keine Billigware. In Palästen könnte sie hängen, oder wenigstens in einem schönen Haus, einem richtigen Zuhause, unter Menschen, die sie pflegen und sorgsam bewegen, wo ihr durch das geöffnete Fenster ein Hauch frischer Luft durchs weiße Kleid weht, sie sachte zum Schwingen bringt; mit der Abenddämmerung dann würde sie zugezogen auf ihre volle Länge, unsere Gardine, jede Falte geglättet und verschwunden.
Dieses Glück blieb ihr verwehrt, starr und schwer von Staub und ermattet hängt sie dort im kleinen, schmucklosen Fenster, vor der dreckigen Scheibe. Vereint für immer in dieser Tristesse.