Das Foto
Dem Kind ist langweilig, es sitzt auf dem Sofa und schaut aus dem Fenster, auch dort passiert nichts Spannendes. Hohe Tannen stehen dicht aneinander gedrängt und versperren die Sicht.
Das Kind muss daran denken, wie es früher immer in diesem Wald gespielt hat, wie es den ganzen Tag Stöcke und Äste und Laub sammelte, um geheimnisvolle Buden und Verstecke zu bauen.
Doch jetzt fühlt es sich zu alt dafür, außerdem ist niemand da, der mit ihm hätte rausgehen können und alleine darf es nicht. Das hat Großvater gesagt, er hat es mit dieser tiefen, eindringlichen Stimme gesagt, die dem Kind ein bisschen Angst einflößt.
Also widerspricht es nicht, sitzt stattdessen auf dem Sofa und starrt aus dem Fenster. Großvater sitzt auf seinem Sessel und döst vor sich hin, das sagt er immer, Großvater schläft nicht, er döst. Das Kind versteht den Unterschied nicht, doch es mag den Klang des Wortes, dösen.
Hin und wieder gibt er einen rasselnden Laut von sich, wie wenn er nach Luft schnappen müsse, was das Kind jedes Mal aufschrecken lässt. Hoffentlich stirbt er nicht, denkt es und lässt den Großvater eine Weile nicht aus den Augen, für den Fall der Fälle.
Doch der alte Mann scheint einfach nur sehr müde zu sein, das versteht das Kind, das auch manchmal sehr müde ist, nur jetzt ist es anders, jetzt gerade ist es hellwach und weiß nicht wohin mit seiner Wachheit.
Vor ihm auf dem Tisch liegt sein Mathebuch, weil der Großvater doch mit ihm lernen sollte, aber dann ist er von einem Moment auf den anderen so müde geworden, dass er das Mathebuch schlichtweg vergessen hat.
Das Kind hat kein Spielzeug mitgenommen, obwohl seine Mutter es ihm bereitgelegt hat, doch das Kind fühlt sich langsam zu alt für Spielzeug, entschlossenen Schrittes ist es an der Tüte mit seinen Puzzles und der Playmobil-Eisenbahn vorbei zum Auto marschiert; jetzt wünscht es, es hätte welches eingepackt, um dieser schrecklichen Langeweile entkommen zu können.
Als das Rumsitzen und Nichtstun unerträglich wird, steht das Kind auf, so leise, wie nur eben möglich, um den Großvater nicht zu wecken, der ja eigentlich nicht schläft, aber das Kind gibt sich trotzdem Mühe, ihn nicht zu stören.
Auf Zehenspitzen tappt es an dem alten Mann vorbei, hört wieder das Rasseln, bleibt kurz stehen, tappt weiter. Mit den Händen streift es an der Wand entlang, an manchen Stellen hat die Tapete einen kleinen Riss, ein paar Nägel gucken aus der Wand hervor, hat dort mal ein Bild gehangen?
Das Kind wundert sich, untersucht die Stelle genauer, verliert dann das Interesse und streunt weiter, verlässt das Wohnzimmer und gelangt in den langen, dunklen Flur. Es geht langsam, vorsichtig, um nicht über Schuhe zu stolpern, die verstreut auf dem Boden liegen und die das Kind zunächst nicht sehen kann, weil es kein Fenster gibt, durch das Licht eindringen könnte.
Vor der Tür am Ende des Flures bleibt das Kind stehen, sie ist geschlossen und das Kind weiß, was sich dahinter verbirgt, es ist Großvaters Schlafzimmer. Auch das darf das Kind nicht betreten, hat der Großvater gesagt, auch das hat er mit dieser furchteinflößenden Stimme gesagt. Doch jetzt ist dem Kind schrecklich langweilig, außerdem schläft oder döst der Großvater doch gerade, was soll also passieren, denkt es, drückt vorsichtig die Klinke herunter und öffnet die Tür einen Spalt breit.
Bevor es den Kopf ins Zimmer steckt, schaut sich das Kind lieber noch einmal um, aber die Luft ist rein, Großvater rasselt im Wohnzimmer. Das Kind drückt die Tür weiter auf, sie quietscht, das Kind erschrickt, erstarrt, lauscht, doch der alte Mann scheint nichts gehört zu haben, also tritt es ins Zimmer.
Ein kühler Luftzug kommt ihm entgegen, ein Fenster ist geöffnet, vor dem anderen sind die Gardinen zugezogen. Alles im Zimmer ist ordentlich, das Bett gemacht, Kleidungsstücke zusammengefaltet auf einem Stuhl, im Regal reihenweise Aktenordner.
Das Kind versteht nicht, wieso es verboten ist, hier zu sein, wo doch alles so ordentlich ist. Es lässt seine rechte Hand wieder an der Wand entlang gleiten, die Tapete hier hat keine Risse und keine hervorstehenden Nägel.
Vor dem Regal bleibt das Kind stehen, es ist ein langes und hohes Regal aus Holz, so viele Aktenordner, staunt das Kind, was macht der Großvater denn mit so vielen Aktenordnern, schmale, dicke, graue, weiße, mit und ohne Etikett, Ordner, so weit das Auge reicht.
Es tippt mit den Fingern auf den ersten, den zweiten, zählt zuerst die unterste Reihe und arbeitet sich dann hoch, vierundzwanzig, fünfundzwanzig; dann, dazwischen, in der mittleren Reihe, entdeckt das Kind ein glänzendes Papier, es klemmt zwischen zwei Ordnern. Das Kind zieht daran und erkennt, dass es ein Foto ist. Es muss schon alt sein, denkt das Kind, an einer Ecke ist es eingerissen und in der Mitte hat es einen breiten Knick, so als wäre es schon oft gefaltet worden. Auf dem Bild sind zwei Männer zu sehen, der eine hat den Arm um die Schultern des anderen gelegt, sie grinsen. Einer von ihnen sieht aus wie der Großvater, nur in jung, mit derselben großen Nase und den riesigen Ohren, denkt das Kind, es ist sich nicht sicher, den zweiten Mann hat es noch nie gesehen.
Das Kind fragt sich, wieso das Foto zwischen den Ordnern klemmt, wo Großvater doch so glücklich darauf aussieht, bestimmt ist es dort reingerutscht, verloren gegangen. Großvater wird sich freuen, wenn er es wieder hat, denkt das Kind, auf einmal ist ihm gar nicht mehr langweilig und es kann gar nicht erwarten, dem Großvater das Foto zu bringen.
Es nimmt das Foto, stürmt zur Tür und in den Flur, wo es dem Großvater direkt in die Arme rennt. Das Kind schreit, so hat es sich erschreckt, weil es doch hier im Flur nicht mit dem alten Mann gerechnet hat. Noch immer ist es ganz finster, nur aus Großvaters Schlafzimmer fällt ein schmaler Lichtstrahl, deshalb sieht das Kind auch das Gesicht des Großvaters nicht, sieht nicht, dass es zornig ist.
Erst als er spricht, weiß das Kind, dass der Großvater sich ärgert, und dann fällt es ihm wieder ein: das verbotene Zimmer, also entschuldigt es sich hastig und hält im gleichen Moment das Foto in die Höhe, das der Großvater ja wegen der Dunkelheit gar nicht sehen kann, weshalb er weiter schimpft und zetert.
Das Kind ist ganz aufgeregt, zieht am Ärmel des Großvaters, zieht ihn ins Wohnzimmer, damit er sich das Foto in Ruhe und im Licht anschauen kann. Schnaufend folgt der alte Mann dem Kind, ohne seinen wütenden Wortschwall zu unterbrechen, das Kind schiebt ihn jetzt zu seinem Sessel, drückt ihn regelrecht hinein und hält ihm das Foto direkt vor dessen Gesicht.
Augenblicklich hört Großvater auf zu schimpfen, plötzlich ist er ganz still, eine Minute, zwei Minuten. Das Kind versteht nicht, was los ist, wieso sagt er denn nichts?
Wer ist der Mann?
Doch sein Großvater schweigt noch immer.
Drei Minuten, vier Minuten, das Kind zählt mit, um sich die Zeit zu vertreiben, um etwas zu unternehmen gegen das elende Warten, mit dem es nichts anzufangen weiß.
Großvater?
Döst du wieder?
Doch Großvaters Augen sind dieses Mal nicht geschlossen, sie sind sogar sehr weit geöffnet, sodass das Kind sich wieder Sorgen macht.
Was hast du denn, Großvater?
Der schweigende Großvater gefällt dem Kind nicht, da ist er ihm selbst zornig lieber, doch der Großvater ist alles andere als wütend, er scheint plötzlich traurig zu sein, seine Augen sind ganz feucht und eine einsame Träne läuft ihm die Wange hinab.
Das Kind hält das Foto umklammert, steht einfach nur da, was soll es bloß tun?, doch noch bevor es weiter darüber nachdenken kann, was es tun könne, schlingt der Großvater den Arm um das Kind, klopft mit der anderen auf die Sessellehne und bedeutet ihm, sich hinzusetzen.
Das Kind beeilt sich, dem Wunsch des Großvaters nachzukommen, damit er schon bald nicht mehr traurig ist. Die Lehne ist hart, das Kind rutscht ein paar Mal hin und her.
Dieser Mann,
sagt der Großvater, kaum dass das Kind mit dem Rutschen aufgehört hat,
dieser Mann war mein bester Freund.
Das hat sich das Kind schon gedacht, weil der Großvater auf dem Foto ja lächelt und seinen Arm auf die Schulter des anderen Mannes legt,
ist er tot, dein Freund?
Der Großvater atmet schwer, lässt den Kopf auf die Brust fallen,
nein, er ist nicht tot,
sagt er dann, so leise, dass das Kind es beinahe nicht gehört hätte.
Was ist denn mit ihm?,
das Kind versteht noch immer nicht, wieso Großvater traurig ist, dem eine weitere Träne aus dem Bart tropft.
Der alte Mann hebt den Kopf, schaut dem Kind direkt in die Augen,
ich habe ihn verraten, meinen besten Freund, verstehst du, was das heißt?
Das Kind denkt nach, nimmt dafür all seine Kraft zusammen, will es verstehen, will Großvater nicht mehr traurig sehen, schüttelt dann den Kopf,
nein.
In der Schule, gibt es da jemanden, den du richtig gern hast?
Noch immer sind die Augen des Großvaters auf das Kind gerichtet, das jetzt eifrig nickt,
ja!,
und es nennt den Namen des Freundes, der neben ihm sitzt.
Gut, gut,
sagt Großvater, aber das Kind sieht, dass er es nur so sagt, dass es nicht wirklich gut ist, doch dann spricht der alte Mann schon weiter, bevor das Kind seinen Gedanken nachhängen kann.
Und du willst, dass es diesem Freund gut geht, oder?
Wieder nickt das Kind, noch etwas energischer.
Und wenn dieses Kind dir ein Geheimnis verrät, behältst du es für dich, habe ich Recht?,
will der Großvater jetzt von dem Kind wissen, das daraufhin überlegt, ob es ein Geheimnis des anderen Kindes kennt.
Ja,
sagt es nach kurzer Bedenkzeit, im Kopf des Kindes wuseln die Gedanken durcheinander, es versteht den Großvater nicht.
Das ist gut, das ist gut,
hört das Kind den Großvater sagen, der den Kopf wieder auf seine Brust hat sinken lassen, auch den Arm, den er um das Kind geschlungen hat, hängt jetzt schlaff neben dem Sessel.
So vergehen weitere Minuten, Minute um Minute.
Weißt du,
sagt er dann endlich, mit brüchiger Stimme, bricht ab, räuspert sich, beginnt von Neuem,
weißt du, wenn du jemanden gern hast, dann darfst du niemals seine Geheimnisse verraten, niemals, hörst du mich?
Er hebt den Kopf, als er zu Ende gesprochen hat, sein Griff wird wieder fester, er drückt die Taille des Kindes, zieht es näher an sich heran, das Kind erschrickt, doch der Großvater drückt noch fester,
schau mich an,
ruft er,
niemals darfst du sein Geheimnis verraten, hast du das verstanden? Ganz gleich, was du über dieses Geheimnis denkst, ganz gleich, wie sehr andere dich bedrängen, sein Geheimnis preiszugeben, du darfst es nicht; wenn du jemanden gern hast, dann tust du alles dafür, dass es dieser Person gut geht, schützt sie, bewahrst ihre Geheimnisse, komme, was wolle.
Das Kind verzieht das Gesicht, die Hand des Großvaters krampft sich in seine Seite, es schmerzt, aber das Kind traut sich nicht, sich zu bewegen.
Versprich es mir,
der Großvater schreit jetzt,
versprich mir, dass du alles dafür tust!
Ich verspreche es, ich verspreche es,
heult das Kind, es wird das Geheimnis des anderen Kindes nicht verraten, niemals. Der Großvater will es zweimal hören, dann noch einmal, dabei fixiert er das Kind mit seinen großen Augen, die plötzlich viel dunkler erscheinen. Erst dann lockert er den Griff, das Kind atmet erleichtert aus, der Großvater steht auf, nimmt das Foto und lässt das Kind allein auf dem großen, schweren Sessel zurück.