Die Belastungsprobe
Während die Welt unter ihr vorbeiflog, hielt sie die kleine Hand fest umklammert.
Ihr Herz klopfte derart schnell, dass sie sich bereits am Rande eines Kollaps wähnte. Vielleicht sollte sie auf sich und ihr drohendes Kreislaufversagen aufmerksam machen, aber wie groß war schon die Chance, dass sich unter den anwesenden Menschen ein Arzt befand?! Außerdem wollte sie das Mädchen nicht beunruhigen, das aufgeregt los gestürmt war, um sich den vermeintlich besten Platz in der kleinen Gondel zu sichern: nämlich ganz vorn, an der großen Panoramascheibe, um einen unverstellten Blick auf das Geschehen zu haben. Und geschehen würde zweifellos eine Menge innerhalb der zehn Minuten, die die Seilbahn für gewöhnlich für den Aufstieg brauchte. Sofern dieses Mal alles gut gehen würde.
Als sie schließlich hinter allen anderen Passagieren die Gondel betreten hatte, war das Mädchen bereits ungeduldig auf und ab gehüpft wie ein Flummi und hatte mit leuchtenden Kinderaugen nach ihr Ausschau gehalten.
Kommmmmm, komm doch endlich!
Obwohl ihr mulmig zumute gewesen war, hatte sie den schalen Geschmack im Mund heruntergeschluckt und sich tapfer an den fröhlichen Wanderern mit ihren Rucksäcken und Stöcken vorbei gequetscht.
Würde ihr überhaupt genügend Luft zum Atmen bleiben?
Am liebsten wäre sie augenblicklich umgekehrt, egal wohin, nur weg von diesem Ort.
Zunächst hatte sie nur ihre schlotternden Knien gespürt, über die sie jegliche Kontrolle zu verloren haben schien. Um sich zumindest ein wenig Halt vorzugaukeln, hatte sie ihre Hüfte gegen die Scheibe gedrückt.
Als dann ein sonorer Gong ertönt war und jemand von außen die Tür verriegelt hatte, war sie augenblicklich in eine Art Schockstarre verfallen. Panik war in ihr aufgewallt und um ein Haar hätte sie den roten Notknopf betätigt, der sich wie eine versteckte Botschaft in ihr Sichtfeld geschoben hatte. Doch noch bevor sie zu einem klaren Gedanken in der Lage gewesen war, hatte sich die Gondel bereits in Bewegung gesetzt. Unwillkürlich war ihr vor Schreck ein erstickter Schrei entwichen, woraufhin ihre Enkelin nach ihrer Hand gegriffen hatte.
Oma, was hast du denn?
Schon gut, schon gut, hatte sie zu beschwichtigen versucht, aber dennoch weiter die Luft angehalten und die Augen zusammen gekniffen.
Auf den ersten Metern war die Gondel so gemächlich knapp über der Erde geglitten, dass sie erleichtert ausgeatmet hatte. Aber schon nach kurzer Zeit war ihre Zuversicht wieder dem Gefühl von Angst gewichen, denn mit einem Male hatte das Gefährt an Geschwindigkeit zugenommen und war in Windeseile den Hang empor gerauscht. Spätestens ab dem Moment, in dem sie sich mitten über einer Schlucht befunden hatten und tief unter ihnen nichts als riesige Steinbrocken zu erkennen gewesen waren, hatte ihr Herz wieder zu rasen begonnen.
Da waren sie nun: ein gutes Dutzend Menschen, vollkommen der Technik und dem Schicksal ausgeliefert.
Und wie ein siamesischer Zwilling kamen zugleich auch die düsteren Gedanken in ihren Kopf geschossen, all die schmerzhaften Erinnerungen an diesen einen Tag vor vielen, vielen Jahren.
Instinktiv krallte sie ihre Finger tiefer in den kleinen Haltegurt an der Decke.
Das kleine Mädchen neben ihr schöpfte keinen Verdacht. Es ahnte nicht, was im Kopf der Großmutter vor sich ging, hörte nicht, wie schnell ihr Herz klopfte und konnte auch den Schweiß nicht sehen, der ihr wie ein Rinnsal den Nacken herunter lief. Glucksend presste das Kind sein Gesicht gegen die Scheibe, um bloß nichts vom Spektakel zu verpassen, und wann immer sie einen Abschnitt passierten, der für das Mädchen besonders spannend zu sein schien, drückte es die Hand der Großmutter noch fester.
Guck doch mal, da!
Die Kinderhand war warm und ein bisschen feucht und die alte Frau erwiderte jede einzelne dieser Gesten, indem sie die kleine Hand noch ein bisschen fester umschloss.
Sie wollte ja gucken! Also nahm sie all ihren Mut zusammen und lehnte sich vorsichtig nach vorn, um den Blick auf die Stelle zu richten, auf die das Mädchen zeigte. Die ersten Male wurde ihr noch schummrig und alles vor ihren Augen verschwamm.
Doch als sie die bedrohliche Schlucht hinter sich ließen und unter ihnen wieder Bäume auftauchten, schaffte sie es: Sie schaute auf die Welt unter sich, erst zaghaft blinzelnd, weil sie selbst nicht glauben konnte, dass es ihr tatsächlich gelungen war, ihrer Angst zu trotzen. Sie schaute auf die herbstlichen Baumkronen, die in den herrlichsten Gold- und Grüntönen glänzten, schaute auf eine kleine Lichtung mitten im Wald, wo ein paar Ziegen neugierig die Hälse in die Höhe reckten.
Dann drehte sie den Kopf und schaute aus dem Seitenfenster der Gondel, wo sich das lange, weite Tal mit den schneebedeckten Gipfel am Horizont erstreckte. Sie schaute und schaute, wie sie noch nie in ihrem Leben geschaut hatte, und nahm alles in sich auf: die Farben, das Licht, das Leben, das unter der schwebenden Gondel vorbeizog.
Oma, Oma, wir sind da.
Erst als sie das Mädchen rufen hörte, nahm sie wahr, dass sie zum Stehen gekommen waren. Alle anderen, die Wanderer mit ihren Stöcken und Rucksäcken, hatten sich bereits in Richtung Ausgang bewegt, sodass sie jetzt alleine in der Gondel standen.
Überrascht blickte sie sich um. Ihre Augen wanderten zur Uhr, die über dem roten Knopf an der Wand hing. Es waren genau zehn Minuten vergangen.
Komm, komm.
Die kleine Hand zog sie energisch zur Tür, an dem der Seilbahn-Mitarbeiter bereits auf die beiden letzten Passagiere wartete und freundlich lächelte.
Wie in Trance stakste sie auf wackeligen Beinen dem Mädchen hinterher, erwiderte das Lächeln des Mannes und trat dann ins Freie. Sie nahm einen tiefen Atemzug und spürte, wie die frische, klare Bergluft durch ihren Körper strömte. Ohne die Hand des Kindes loszulassen, steuerte sie eine junge Lärche an, die auf einem kleinen Vorsprung thronte. Sie umarmten den noch schmalen Stamm des Baumes und legten ihr Ohr auf die silbergraue Borke. Auf den Zweigen waren noch kleine Wassertropfen zu sehen, die schon bald in der Sonne verdampfen würden.