Daniela Caixeta Menezes

Aller Anfang ist schwer

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Dass es so kalt sein würde, damit hätte ich beileibe nicht gerechnet.
Wie der Wind an den Fensterläden ruckelt und kalte Luft unentwegt herein strömt, ist schier unglaublich und zeigt wieder einmal, dass das Leben in Altbauten zweifelsohne überschätzt, ja nahezu hyperromantisiert wird.
Was bin ich froh, zumindest an die Fleecedecke gedacht zu haben! Die wird mich vor dem Tod durch Erfrieren schützen. Bald wird die Heizung anspringen und mich aus dieser Froststarre erlösen, aber bis dahin muss ich mich noch warm zittern.

Bestimmt friere ich auch deshalb so, weil es draußen stockdunkel ist. Es ist so finster, als hätte ich meine Augen geschlossen!

Aber was ist das?

Ah, die kleine Laterne am Gartentor, die kämpft tapfer gegen das schwarze Nichts an, bravo! Seltsam, bringen die starken Böen sie etwa zum Flackern, oder spielt mir meine Wahrnehmung bloß einen Streich?

Wie dem auch sei, ein Gutes hat es immerhin: Je länger ich auf das warme gelbe Licht starre, desto erträglicher wird auch die Zimmertemperatur. So funktioniert wohl Autosuggestion.

Oder Moment mal, habe ich in weiser Voraussicht gestern Abend noch die Schaltuhr verändert und die aufsteigende Wärme kommt in der Tat von dem Heizungsrohr-Ungetüm neben der Tür? Ich könnte jetzt aufstehen und nachschauen, aber im Prinzip ist die Quelle des unerwarteten Glücks ja vollkommen irrelevant. Die Wirkung zählt, und die ist wirklich nicht zu unterschätzen.

Es geht mir ausgezeichnet, ja ich spüre gar eine tiefe Zufriedenheit in mir aufwallen. Der Schein der Laterne ist wahrhaftig ein guter Orientierungspunkt. Wie hübsch die Büsche links und rechts im diffusen Licht erscheinen.

Wann wohl die Dämmerung einsetzen wird? Ich wünschte, ich hätte von hier aus einen unverstellten Blick auf den Horizont. Bestimmt wäre der Sonnenaufgang spektakulär.

Andererseits ist es in den letzten Tagen stets nebelig gewesen, und zwar nicht die Art von Nebel, der sich im Laufe des Vormittags verzieht, sondern vielmehr ein undurchdringlicher, dessen Wabern die Welt verhüllt wie ein blind gewordenes Glas. Und in Tälern wie diesem hält sich das Wetter angeblich doch länger, ohne allzu großen Schwankungen ausgesetzt zu sein. Das behaupten zumindest die Meteorologen.

Doch wenn ich ehrlich bin, weiß ich mit derartigen Aussagen nicht viel anzufangen, mögen sie noch so empirisch fundiert sein. Es wird ja beinahe zwanghaft ständig und überall die Forschung zu Rate gezogen. Vergessen ist all das kulturelle, über Jahrhunderte tradierte Wissen unserer Vorfahren, die auch ohne komplizierte Statistiken und aufwändige Modelle zu ziemlich präzisen Wettervorhersagen in der Lage waren. Denn im Gegensatz zu uns naturentwöhnten Menschen der Moderne haben sie noch im Einklang gelebt mit den Naturgewalten Sonne, Wind und Regen, ohne diese permanent beherrschen zu wollen.

Aber weg mit dem ketzerischen Gedankengut, glorreich bist du, o du fröhliche Wissenschaft.

Da, ein Gezwitscher, aber wie ist das möglich in dieser Düsternis? Der frühe Vogel fängt den Wurm, schon klar, aber nachtaktive Federtiere sind doch wahrlich rar geworden in unseren Breitengraden.

Noch so ein Politikum, die Zugvögel und der Klimawandel. Doch dieses Fass mache ich jetzt besser gar nicht erst auf, es würde ja doch zu nichts führen. Denn ein großes Problem besteht ja gerade in unserer schier unvorstellbaren Ignoranz nahezu allem gegenüber. Blind zerstören wir alles und berauben uns unserer eigenen Lebensgrundlagen. Aber statt innezuhalten und unseren Kurs zu ändern, steuern wir sehendes Auges auf den Untergang zu. Zack, bumm, aus und vorbei. Dann ist das Geschrei groß, doch niemand soll noch sagen, er hätte es nicht gewusst!

Gewiss möchte ich nicht in Abrede stellen, dass es schon heute viele Wissende gibt, und sogar ein paar Handelnde. Es reicht nur nicht, um die drohende Apokalypse abzuwenden. Manche behaupten gar, sie stünde bereits kurz bevor oder habe schon begonnen. Ironischerweise stammen diese Behauptungen ja nicht von Meteorologen oder anderen hellen Köpfen, sondern von sogenannten Aktivisten, die sich dann auf Straßen festkleben.

Ich persönlich kann solchen Aktionen durchaus etwas abgewinnen. Sie stürzen den Alltag der Ottonormalos schön ins Chaos und entlarven deren Heuchelei, das gefällt mir. Was sind das bloß alles für Hochstapler! Sprechen sich vehement für die Rettung des Planeten aus, aber sobald ihre eigenen Felle davonschwimmen, ist’s vorbei mit dem Gutmenschentum.

Aber ich sitze hier im Glashaus und werfe mit Steinen, wer kann schon immer gut sein?

Ach, diese komplexe Welt.

Manchmal sehne ich mich danach, aussteigen zu können. Auch wenn ich natürlich weiß, dass ich dankbarer sein sollte. Ich führe weiß Gott ein privilegiertes Leben, es fehlt mir an nichts.

Oh, schon wieder dieser Vogelruf, vielleicht kann ich die Laute einfangen und der Ulla später vorspielen? Ich wette, sie als Hobby-Ornithologin wüsste sofort, wer da Radau schlägt.

Was für eine Gabe das doch ist: Tiere an ihren Geräuschen erkennen. Und Bäume und Pflanzen anhand von Blättern zu bestimmen. Für mich war das schon immer ein Buch mit sieben Siegeln. Flora und Fauna, wie poetisch das klingt. Gäbe es mehr Ullas, wäre die Welt ein besserer Ort, jawohl

Gleichzeitig bin ich skeptisch, ob sich das in fortgeschrittenem Alter noch erlernen lässt.

Hätten meine Eltern doch mal früher damit angefangen, uns nützliche Sachen beizubringen. Stattdessen habe ich Blockflöte spielen gelernt, das muss sich mal einer vorstellen. Ich kann im Wald stehen und Hänschenklein tuten, aber ich habe keine Ahnung, welche Blätter mir um den Kopf wehen.

Eine Tragödie, doch leider kein Einzelfall. Das heutige Schulsystem ist ja geradezu darauf ausgerichtet, dumme Menschen heranzuziehen. Jugendliche, die wissen, wie sie vor Klassenarbeiten stumpf Vokabeln oder Formeln in ihr Gehirn pressen, nur um sie gleich danach wieder auszuscheiden.

Aber was rege ich mich darüber auf, es nützt doch sowieso nichts. Man kann sich ja nicht über alles echauffieren, sonst wird man noch ganz kirre und damit ist am Ende niemandem geholfen.

Jetzt frage ich mich aber schon, ob das politisch korrekt formuliert ist: man kann. Müsste ich vielleicht besser sagen: manfrau, frau und man kann, ersiees kann, sie können, also wegen der nichtbinären Menschen? Im Englischen ist das etwas praktischer, da lässt sich einfach der Plural einspannen. Problem gelöst.

Immerhin etwas, das die Angelsachsen zu lösen wissen, denn ansonsten sind ihre Vertreter ja ganz schön beschäftigt mit diversen Herausforderungen. Die Amis haben Trump, die Engländer ihren Brexit, o Pardon, die Briten natürlich, noch so ein Fauxpas.

Also allmählich wird die Bank wirklich ungemütlich. Hätte ich doch bloß dieses Kissen gekauft, von dem immer alle reden.

Aber für mich ist das im Grunde alles Augenwischerei, ein Versuch, den Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Als sei das Leben nicht schon teuer genug geworden, Strom, Gas, Lebensmittel. Wo soll das noch hinführen? Die magere Unterstützung, die eine Durchschnittsperson vom Staat erhält, reicht doch hinten und vorne nicht. Nicht einmal dem Verlust der Kaufkraft kann so entgegen gewirkt werden. Bei den stagnierenden Löhnen kein Wunder.

Aber die da oben haben sich ja noch nie für unsere Sorgen interessiert. Manchmal kann ich gut verstehen, wieso manche Leute die Populisten wählen. Die machen zwar letzten Endes nichts besser, weil sie selber keine Ahnung haben. Aber ein Weckruf ist es alle Male.

Apropos Weckruf, habe ich eigentlich meinen Wecker ausgestellt? Nicht, dass der gleich losgeht und alle im Haus terrorisiert.

Ha, ertappt! Da mache ich mir schon wieder nur Gedanken um andere, ohne auch mal an mich selbst zu denken. Das hier ist schließlich meine Zeit, und was tue ich blöde Gans? Ich bin wieder nur im Außen, typisch. Alles gesellschaftlich gelernt und über Jahre perfektioniert: das Leben als Frau.

Dabei bin ich für totale Gleichberechtigung, solange der Weg ein guter ist. Nicht alle Zwecke heiligen die Mittel, oder wie heißt nochmal das Sprichwort?

Wie viel Zeit wohl schon vergangen ist?

Gleich muss doch wirklich mal die Dämmerung einsetzen. Ich darf dann auf keinen Fall vergessen, mir mal die Laterne aus nächster Nähe anzugucken. Entweder sie flackert wirklich oder es ist eine Fata Morgana. Erstaunlich, wie einem das Gehirn Streiche spielen kann!

Fast so erstaunlich wie die Tatsache, dass sich Vögel bei ihrer Reise gen Süden am Schall orientieren. Ob der kleine Piepmatz auch noch aufbrechen wird? Hoffentlich hat er genug Kraft dafür, seiner Stimme nach zu urteilen ist es ein mickriges Geschöpf. Dass ich ihn gar nicht sehen kann, seine Stimme klingt so nah. Bestimmt versteckt er sich vor mir, richtig so, mein Freund. Schließlich kannst du ja nicht wissen, dass ich tierlieb bin. Immer schön auf der Hut sein.

Also so langsam muss die Zeit wirklich mal rum sein, ich sitze doch schon eine Ewigkeit hier.

Okay, also ich atme jetzt noch ein letztes Mal ein und aus. Wahnsinn, das fühlt sich herrlich an! Ist es nicht ein Wunder, wie sich der Mensch immer wieder neu regenerieren kann?!

Das war doch ein gelungenes erstes Mal, morgen meditiere ich gleich wieder.