Abschied
Deine Hand fährt über die Lehne, weicher Polsterstoff, blaue Blumen auf hellem Grund, Enziane vielleicht, du willst noch ein wenig verweilen in diesem Sessel, der so gut passt zu deinem momentanen Gemütszustand. Der Blick schweift umher, ohne Ziel, fällt auf den Kleiderschrank, Eiche, große Türen, schwere Messinggriffe, als Solitär steht er vor der fliederfarbenen Wand, seine Wirkung damit noch verstärkend. Wen hat er nicht schon alles kommen und gehen sehen, du stellst dir vor, die Griffe wären Augen, das massive Holz Speicher all dieser visuellen Reize, fünfzig, hundert, hundertfünzig Jahre in dieser Welt, wie viele davon hier, an diesem Platz?
Bei jedem Aufbruch dieses Gefühl, etwas zurückzulassen, hier, an diesem Ort, der dir lieb geworden ist – ein Zimmer, ein Dorf, eine Landschaft. Wer weiß, ob du je wiederkommst, hierhin zurück.
Ist die Welt nicht reich an Orten wie diesem, fragst du dich, bietet sie nicht einen Überfluss an Dörfern, die bereist, Landschaften, die bestaunt, Zimmern, die bewohnt werden wollen? Setz den Finger auf die Karte, irgendwo, dein Ziel wird dich schon finden, was gibt es nicht alles zu sehen, zu tun, zu erleben!
Und doch: Immer wieder fällt der Abschied schwer, nach einer Woche, nach drei Tagen, nach nur einer einzigen Nacht, verbracht an diesem oder jenem Ort. Er muss gar nicht außergewöhnlich schön sein, dieser Ort, nicht besonders heimelig oder auffällig anders, als das, was du schon kennst, um dich in den Bann zu ziehen; es ist das Gefühl, das zählt, tiefes Wohlbefinden: Verbundenheit.
Das Bett, in dem du geschlafen, der Sessel, in dem du ausgeruht, der Schrank, in den du deine Kleidung gehängt hast; der Duft, der diesem Ort anhaftet, Lavendel mit einem Hauch von Zitrone, nirgendwo anders hast du ihn so intensiv wahrgenommen; die fliederfarbene Wand, wo gibt es sie außer hier? Der Ruf der Amsel vor dem Fenster: tiefe, warme Flötentöne.
Alles hinterlässt eine Spur in deinem Gedächtnis, du gewöhnst dich an das, was dich umgibt, ehe der Verstand begreift, dass dem so ist. Vor dem Denken und Begreifen kommt das Gefühl, dieses bestimmte Gefühl, einer vagen Ahnung gleich, Wehmut vielleicht, Nostalgie, die anwächst, sobald du diesen Ort hinter dir lässt. Wirst du jemals wiederkehren, zurückkommen – hierher, an diesen einen Ort? Du wirst vielleicht niemals wieder in diesem Bett schlafen, in diesem Sessel ruhen, nie wieder deine Kleidung in diesen Schrank hängen.
Ein letztes Mal wandern deine Finger über die blumengemusterte Sessellehne, du sinkst ein in die weichen Polster mit der ganzen Schwere dieses einen unabwendbaren Gefühls. Abschied, immer wieder Abschied, ob es jemals leichter wird?