Daniela Caixeta Menezes

Enrosadira

Aufstieg in den Bergen

Cover Image for Enrosadira

Ihre Beine zitterten so stark, dass Lissi Sorge hatte, sie könnte jeden Moment umkippen. Sie fühlte sich wie ein frisch geborenes Lämmchen, das unbeholfen über die ihm noch unbekannte Wiese stakste, unfähig, auch nur dem Hauch eines Windstoßes standhalten zu können. Überall am Körper lief ihr der Schweiß herunter, während es sie gleichzeitig so fröstelte, dass sie ein unbändiges Verlangen verspürte, eine weitere Lage überzuziehen.

Lissi versuchte, sich selbst zu beruhigen, indem sie sich gut zuredete. Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren, ermahnte sie sich, es wird schon alles gut gehen. Aber was sie auch tat: Ihre Angst vor dem immer schmaler werdenden Pfad, der sich direkt vor ihr in einen veritablen Grat verwandelte, übermannte, ja lähmte sie.

Außer des schwachen Scheins ihrer Stirnlampe umgab sie nichts als Dunkelheit. Dadurch wurde Lissi schmerzhaft an den Wetterbericht erinnert, der zwar einen herrlichen Tag, aber eine ungewöhnlich schwarze, mond- und sternenlose Nacht vorhergesagt hatte. Panik stieg in ihr auf. War sie vielleicht irgendwo falsch abgebogen? Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.

In ihre Angst mischte sich jetzt auch ein Gefühl von Ärger, sie ärgerte sich über die Beschaffenheit des Weges und über die Frau vom Tourismusbüro, die nicht vehementer auf einen lokalen Bergführer insistiert hatte. Nicht, dass Lissi sich dem Grat nicht gewappnet fühlte, zumindest nicht in der Theorie. Schließlich wusste sie, dass sie eine erfahrene Wanderin war und schon ganz andere Dinge gemeistert hatte. Aber die ersten Kilometer waren deutlich anstrengender gewesen als gedacht, da Lissi immer nur ein paar Meter hatte vorausschauen können, von Dämmerung weit und breit keine Spur.

Unter diesen Umständen fühlte sie sich zweifelsohne berechtigt, sich nicht ganz wohl mit der ganzen Sache fühlen zu dürfen. Die Kamera mit dem großen Teleobjektiv hing ihr wie Blei um den Hals, aber sie brachte es auch nicht über sich, die Ausrüstung in ihrem Rucksack zu verstauen; um keinen Preis wollte sie den magischen Moment verpassen, in dem sich das erste Tageslicht ankündigen und langsam hinter den Bergen hervorlugen würde.

Lissi atmete mehrere Male tief ein und wieder aus, und die Luft schien auf einmal weniger erfrischend, sondern hatte im Gegenteil etwas Rauchiges an sich. Jetzt spielt mir also meine Wahrnehmung auch noch einen Streich.

Sie nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche, in der Hoffnung, den unangenehmen Geruch damit wegspülen zu können.

Das kühle Nass in ihrer Kehle gab ihr neuen Auftrieb und ließ sie wieder deutlicher das Rauschen des Windes in den Blättern vernehmen. Während sie das Zittern in ihren Beinen zu ignorieren versuchte und tapfer weiterlief, ertastete sie an der Felswand links neben sich ein Seil, an dem sie sich jetzt festhielt.

Pole pole, das waren die Lieblingsworte des tansanischen Bergführers in einer Doku über eine Kilimandscharo-Besteigung gewesen. Immer langsam, ein Schritt nach dem anderen, sprach Lissi sich leise Mut zu. Wie gut, dass ich gerade nur in den Alpen und nicht auf einem 6000er bin, im Vergleich dazu ist das hier ein Klacks.

Ihre Autosuggestion funktionierte: Die nächsten Meter flog sie nahezu über den Grat, bis sie im Licht ihrer Stirnlampe bereits sein Ende erspähen konnte.

Dort angekommen, setzte Lissi ihren Rucksack ab und lehnte sich an einen markanten, großen Felsen.

Was hat die Frau am Telefon nochmal gesagt, wie lange die Wanderung dauert?


Eine Kirche war dort oben, und eine alte urige Almhütte, in der Lissi frühstücken wollte, um sich für den Abstieg zu stärken.

Oder ist die Hütte tiefer im Tal und nur das Ziel der Wanderung?

Lissis Erinnerungen an das Gespräch verschwommen, erneut ärgerte sie sich, dass sie – vollkommen begeistert von der Idee, die Sonne hoch oben in den Bergen aufgehen zu sehen – nicht genauer zugehört hatte. 

Nicht mal ein trockenes Brötchen hatte sie eingesteckt, dabei knurrte ihr Magen bereits, als würde sich ein ganzes Orchester darin tummeln. Wasser hatte sie, ja, und in ihrer taschenreichen Hose konnte sie auch einen Müsliriegel ertasten. Weit würde sie damit jedoch nicht kommen.

Wie war sie überhaupt hierher gelangt, an diesen Grat ohne Zeichen anderer menschlicher Lebewesen? Bestimmt hatte sie sich längst meilenweit von der Zivilisation entfernt.

Aus einem Impuls heraus wollte sie ihr Handy zücken, kramte in ihren Jackentaschen, vergebens. Bis sie sich wieder daran erinnerte, dass sie es nicht finden würde: sie hatte es auf dem Beifahrersitz ihres Autos liegen lassen – vernebelt von der romantischen Vorstellung, während des Sonnenaufgangs ganz bei sich zu sein. Und die Wanderkarte lag genauso nutzlos auf dem Beifahrersitz.

Sie war also nicht nur mutterseelenallein, sondern gewissermaßen auch abgeschnitten von der Außenwelt. Das Einzige, was sie tun konnte, war darauf zu warten, dass die Sonne endlich aufgehen würde.

Lissi spürte, wie ihre Augen wässrig wurden. Erschöpft stieß sie einen lauten Schluchzer aus.

Die Minuten verstrichen, ohne dass sie sich regte. Angestrengt versuchte sie, einen klaren Gedanken zu fassen, aber alles, was sie wahrnehmen konnte, waren ihre schlaffen Gliedmaßen.

Da vernahm sie plötzlich ein Flüstern ganz ihrer Nähe.

»Na na, wer wird denn da verzagen.«

Lissi erschrak. Was war bloß mit ihr los, dass sie jetzt auch noch Stimmen hörte?

Sie sprang auf.

Augenblicklich war ihre Müdigkeit verflogen, sie spürte Panik in sich aufwallen. Mit ihrer Stirnlampe strahlte sie die Baumkronen um sich herum an, die sanft im Wind wogen, unbeeindruckt von Lissi oder irgendeinem anderen Lebewesen.

Der Anblick stimmte Lissi halbwegs milde. Sie setzte sich wieder. Immerhin war es eine freundliche innere Stimme, und Recht hatte sie: Schluss mit diesem apokalyptischen Trübsalblasen, befahl Lissi sich selbst.

Sie streckte beide Arme aus und rollte dabei ihren Kopf kreisförmig. Die Bewegung tat ihrem Körper gut.

Dann hörte sie es ein zweites Mal, jetzt etwas lauter, näher.

»Na na, wer wird denn da verzagen.«

Lissi hielt den Atem an, ließ die Arme wieder neben den Körper fallen. Sie regte sich nicht, blieb mucksmäuschenstill. Ihr Herz klopfte jetzt wild in ihrer Brust. Hätte jemand in diesem Moment ihren Puls gemessen, so wäre das Erstaunen darüber groß gewesen. Ein Pulsschlag wie nach einem Marathon und das im Ruhezustand. Aber Lissi war viel zu angespannt, um etwas anderes als dieses pochende Klopfen wahrzunehmen.

Tatam-tatam-tatam.

Zehn Sekunden verstrichen, dreißig, dann sprach die Stimme erneut zu ihr, dreimal, viermal, glasklar, so als würde sie nicht hinter ihrer Stirn herumspuken, sondern stände direkt neben ihr.

Das brachte Lissi vollends aus dem Konzept. In ihrem Kopf schwirrte es. Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder, die Stimme ertönte erneut – und dann ging alles ganz schnell.

Im Lichtkegel direkt vor Lissis Augen tanzten kleinste Staubkörner, die vom Wind aufgewirbelt worden waren, aber dahinter hatte noch etwas anderes Lissis Aufmerksamkeit erregt. Etwas, das sich langsam bewegte, zunächst nur schemenhaft, bis die Konturen schärfen wurden. Es konnte jetzt bloß noch fünf, sechs Meter von ihr entfernt sein, aber Lissi saß einfach nur da, die Kinnlade drohte, ihr auf die Füße zu fallen, was sie aber gar nicht registrierte, weil sie nur Augen und Ohren und ein laut pochendes Herz für dieses Wesen hatte.

Die Sekunden verstrichen, oder waren bereits Minuten vergangen? Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, ebenso die Fähigkeit, klar zu denken oder zumindest Fluchtinstinkte wahrzunehmen. Stattdessen kauerte sie an den großen Fels gelehnt, spürte seine Kälte, die durch ihre Klamotten drang und sich auf ihre Haut legte wie ein klammes Tuch.

Lissi hielt den Kopf still, um mit der Stirnlampe weiterhin dieselbe Stelle auszuleuchten, und tatsächlich: die Konturen fügten sich zusammen, wie bei einem Mosaik, nachdem die letzten Steinchen eingesetzt wurden, zum Vorschein kam wie aus dem Nichts eine große dunkle Kapuze mit einer langen mantelähnlichen Jacke und einem dicken Wollschal, der in mehreren Schlaufen um den Hals geschlungen worden war, denn es handelte sich um einen menschlichen Hals, der da in ihrem Lichtkegel stand, zweifellos, und im nächsten Moment ließen sich auch erste Gesichtszüge erkennen.

Zu diesem Zeitpunkt trennten Lissi nur noch etwa vier Meter von ihrem Gegenüber, ihre Halogenlampe warf ein starkes gleißendes Licht, das lediglich an den Rändern an Intensität abnahm und ausfranste. Ebendieses starke Licht war es dann auch, was die Stimme erneut ertönen ließ.

»Na na, mit dieser Lampe schrecken Sie noch den ganzen Wald auf.«

Es war eine Frau, so viel stand fest, und sie klang sehr freudig, so als könnte sie jederzeit loslachen.

Sofort fiel die Anspannung von Lissi ab, obwohl die Unbekannte jetzt einen Schritt zur Seite machte und damit wieder in der Dunkelheit verschwand, in der sie rational betrachtet ja durchaus eine potenzielle Gefahr darstellte.
Eilig schaltete Lissi ihre Stirnlampe aus.

»Wwwas machen Sie denn hier … alleine im Dunkeln?«

Sie fand, dass sie ganz anders klang als gewöhnlich. Mit der rechten Hand nestelte sie an ihrer Lampe herum und suchte nach dem kleinen Rädchen, mit dem sie die Scheinwerferform justieren konnte.

Die Frau stieß einen kurzen, aber herzlichen Lacher aus. Sie schien also in der Tat ein freudiger Mensch zu sein, stellte Lissi erleichtert fest; offenbar konnte sie sich wenigstens noch auf diesen Teil ihrer Wahrnehmungsrezeptoren verlassen.

»Das muss ich wohl eher Sie fragen, denn Sie sind ganz offensichtlich nicht von hier.«

Erst jetzt fiel Lissi auf, dass die Frau im traditionellen Dialekt der Region sprach, wohlklingend und melodisch. Sie stellte sich vor, wie sie zusammen in der gemütlichen Stube sitzen, eingehüllt in weiche Decken, vor sich warmen Bergkräutertee.

Augenblicklich erfasste Lissi eine große Sehnsucht nach der unbekannten Hütte, in der sie bald eigentlich zum Frühstücken hätte einkehren sollen. Mit einem Mal fühlten sich ihre Beine schwer und aufgedunsen an. Ich werde es nie zu dieser Hütte schaffen. Ein Gefühl großer Resignation überwältigte sie.

Die Frauenstimme neben ihr räusperte sich. Offenbar war Lissi so sehr in ihren Gedanken abgedriftet, dass bereits etliche Minuten vergangen sein mussten.

»Schauen Sie, die Berge, die haben ihr ganz eigenes Wesen. Ein zutiefst unergründliches, selbst wenn die Menschen immer häufiger meinen, alles über sie zu wissen.«

Es dauerte lang, bis das Gesagte zu ihr durchdrang, Wörter in Zeitlupe, die Lissi behutsam in ihrem Kopf balancierte, ohne etwas Sinnvolles entgegnen zu können. Die Frau hingegen schien gar keine Antwort zu erwarten.

Ruhig und in größter Fröhlichkeit sprach sie weiter.

“Zu jeder frühen Morgenstund schaue ich empor zu den steinernen Riesen im Reiche Laurins, wie sie im roten Glanz erstrahlen, und dabei mir wird warm ums Herz. Was für ein wunderbarer Fluch, der so etwas Herrliches entstehen lässt, nicht wahr?!”

Den letzten Halbsatz kicherte sie mehr, als ihn zu sprechen. Sie klang wie ein junges Mädchen, das seine Großeltern beim Menschärgeredichnicht schlägt und es selbst kaum glauben kann.

Lissi verschlug es augenblicklich die Sprache.

»Was haben Sie da eben gesagt?”« , stammelte sie, als sie sich wieder etwas sortiert hatte.

“Ich habe gesagt, wie sehr ich die Enrosadira liebe.”

Die Frau trällerte nun munter.

»Aber das ist doch unmöglich! Wie können Sie denn wissen, weshalb ich hier bin?«

Vor lauter Aufregung biss Lissi sich auf die Unterlippe, krampfhaft bemüht, sich auf das Gespräch mit dieser fremden Frau einzulassen, aber es herrschte nichts als Leere in ihrem Kopf. Sie fühlte sich außerstande, eine Konversation am Laufen zu halten.

»Na na, glauben Sie, Sie sind die Erste, die sich voller Kühnheit in die Berge hier begibt und sich verläuft?«

Die Frau lachte laut auf. Sie klang noch immer freundlich.

Lissi fühlte sich ertappt. Auch sie hatte sich von der erhofften Enrosadira blenden lassen und konnte womöglich froh sein, nicht an dem hinter ihr liegenden Grat abgestürzt zu sein. Im nächsten Moment aber schienen ihre Sinne zurückzukehren und mit ihnen auch die Erinnerung daran, was sie eigentlich hergeführt hatte. Sie war beileibe keine beliebige Touristin, selbst wenn sie sich zugegebenermaßen wie eine Amateuerwanderin angestellt hatte an diesem Morgen; aber ihre Expertise für die Region und ihre Mythen konnte ihr niemand streitig machen.

»Aber ich habe einen guten Grund, hier zu sein!«

Protestierend rümpfte sie die Nase, was aber natürlich in der Dunkelheit seine Wirkung verfehlte.

»Hier am Grat meinen Sie?«

Sie kicherte.

Lissi stellte sich vor, bei der fremden Frau und deren Großeltern mit am Tisch zu sitzen und Partie um Partie zu verlieren. Plötzlich kam sie sich äußerst kindisch vor, wie sie im Dunkeln am Fels kauerte und immer noch die Nase rümpfte. Im Grunde zerbarst Lissi beinahe vor Neugierde, wie es dazu kommen konnte, dass diese kauzige Frau aus dem Nichts von König Laurin zu erzählen begonnen hatte, ausgerechnet!

Sie beschloss, ihr Schmollen zu unterbrechen und stattdessen konstruktiv vorzugehen.

»Ich meine hier im Rosengarten, zu dieser besonderen Uhrzeit. Ich bin nämlich Wissenschaftlerin, müssen Sie wissen. Ich erforsche Mythen aus den Alpen, und dazu zählt eben auch die von König Laurin und seiner Enrosadira.«

Ihre kleine Selbstbeweihräucherungsrede triefte nur so vor Hochnäsigkeit. Fehlt nur noch, dass ich dieser dunklen Gestalt meine Immatrikulationsbescheinigung vor die Nase halte. Lissi genierte sich.

Mit demonstrativ versöhnlicher Stimme fuhr sie fort.

»Und deshalb frage ich mich, wie es sein kann, dass Sie aufs Geratewohl auf Laurin und meinen Rosengarten-Mythos zu sprechen kommen.”

»Ihr Rosengarten-Mythos, so so.«

Wieder dieses Kichern, beinahe kindlich. Lissi konnte schlecht das Alter ihrer Nacht-Bekanntschaft schätzen, dafür hatte sie ihr Gesicht nicht richtig erkennen können, und die Stimme allein gab ihr nicht genügend Anhaltspunkte.

»Na dann erzählen Sie doch mal, was Sie alles erforscht haben.«

Erstaunt schaute Lissi in die Dunkelheit neben sich, wo sie die Frau vermutete. War es plötzlich wieder dunkler geworden? Eben hatte sie doch zumindest noch die Umrisse des langen Mantels erkennen können.
Doch sie wurde in ihren Gedanken unterbrochen, als das Kichern stoppte und die Stimme erneut ertönte.

»Ich wette nämlich, dass Sie die alles entscheidende Erkenntnis noch nicht erlangt haben.«

Das konnte Lissi nicht auf sich sitzen lassen:

»Was wollen Sie damit sagen? Wie können Sie es wagen, meine Arbeit derart zu diffamieren, ohne sie überhaupt zu kennen!«

Die Frau forderte Lissis Kampfgeist heraus, auf ihre Forscherinnen-Ehre würde sie nichts kommen lassen. Gleichzeitig begann es in ihrem Kopf zu rattern. Worauf wollte die Frau hinaus, was hatte Lissi übersehen?

»Na na, wer wird denn hier gleich so zornig werden. Nun sagen Sie doch, was Sie wissen und vielleicht habe ich dem ja noch etwas hinzuzufügen.«

Lissi dachte angestrengt nach. Führte die Frau sie an der Nase herum?

Und überhaupt, das Ganze schien Lissi plötzlich überaus absurd: sich während einer Sonnenaufgangswanderung zu verirren, im Stockfinsteren auf eine wundersame Person zu treffen und mit dieser dann über die eigene wissenschaftliche Arbeit zu sprechen.

Lissi schüttelte ungläubig den Kopf.

Der Frau schien Lissis Hadern nicht ergangen zu sein.

»Na na, warum denn so argwöhnisch? Ich möchte wirklich gern wissen, was Sie alles herausgefunden haben.«

»Okay, gut, wie Sie meinen!«, rief Lissi etwas zu laut und etwas zu theatralisch.

Plötzlich fühlte sie sich wie die Protagonistin in einem Film, ein Film, wie auf ihren Leib geschneidert, jede einzelne Sequenz: minutiös choreografiert. Nur kannte sie ihre genaue Rolle dabei nicht, wusste nicht, was als nächstes von ihr erwartet wurde.

»Lange vor unserer Zeit gab es hier einen König, König Laurin.«

Während sie sprach, musste sie den Impuls unterdrücken, nicht über sich selbst zu lachen. Doch obwohl sie die Frau nicht sehen konnte, war Lissi sich sicher, dass sie lächelte.

Also setzte sie fort und hoffte, möglichst unbekümmert zu wirken dabei.

»Laurins ganzer Stolz galt seinem schönen Rosengarten. Aber er war nicht zufrieden, denn was ihm fehlte, war eine Gemahlin.«

»So ist es«, pflichtete die unbekannte Frau ihr bei, was Lissi noch mehr das Gefühl gab, auf einer Bühne zu stehen. Aber es würde Lissi nicht aus dem Konzept bringen, sie kannte den Mythos aus dem Effeff. Und sie konnte nicht verhehlen, wie sehr sie ihn doch mochte.

»Als der König eines anderen Landes einen Ehemann für seine Tochter suchte und einen Ritterwettkampf zu ihren Ehren veranstaltete, wollte Laurin daran teilnehmen. Aber er erhielt keine Einladung, was ihn erboste. Er beschloss, trotzdem hinzugehen – als unsichtbarer Gast, mithilfe einer Tarnkappe.«

Hier hielt sie kurz inne, eine absichtliche Kunstpause. Lissi fragte sich, ob die Unbekannte sie für eine gute Erzählerin hielt. Seit sie denken konnte, hatte sie es geliebt, Geschichten zum Besten zu geben, echte oder erfundene, auf Familienfesten wie in der Schule. Es beflügelte sie, tief in die Narration einzutauchen und Charaktere zum Leben zu erwecken. Vermutlich hatte sie sich dann auch deshalb für ihre Doktorarbeit entschieden; es war förmlich zu ihr gekommen, hatte sie gefunden und in den ersten Jahren an den Schreibtisch gefesselt, so sehr war Lissi eins geworden mit den Mythen, die sie erforschte.

Bis sie irgendwann an einen Punkt gelangt war, an dem sie nicht weiter gewusst hatte und ihre Leidenschaft von einem auf den anderen Tag verschwunden schien. Aber jetzt spürte Lissi sie plötzlich wieder: die Begeisterung für Laurins Rosengarten und all die anderen fabelhaften Bergsagen.

»Und was ist dann passiert?«

Die Stimme durchkreuzte Lissis gedankliches Abdriften, das unbeabsichtigt auf die Kunstpause gefolgt war.

»Aber Sie wissen es doch genauso gut wie ich«, rief Lissi in die Nacht hinein, besann sich dann aber wieder auf die getroffene Vereinbarung und setzte ihre Erzählung fort.

»Als Laurin die Königstochter sah, war es um ihn geschehen. Er verliebte sich sofort in sie und entführte sie kurzerhand. Natürlich schickte ihr Vater unverzüglich ein Ritterheer los, um seine Tochter zurückzuholen. Als sie im Rosengarten eintrafen, setzte Laurin abermals seine Tarnkappe auf. Mit den Rittern konnte er es unmöglich aufnehmen. Doch an den Bewegungen der Rosen, die Laurin mit seinem Umherrennen auslöste, erkannten die Ritter, wo Laurin sich befand. So gelang es ihnen schließlich, ihn gefangenzunehmen.«

Lissi war in Fahrt gekommen, ihre Nacherzählung hatte deutlich an Fahrt aufgenommen. Unweigerlich fühlte sie sich wieder in die Zeit ihrer Kindheit versetzt, sah ihre Eltern vor sich, wie sie anerkennend mit der Zunge schnalzten, ihre Klassenkameraden, die bei jeder Pointe laut klatschten.

»Laurin fühlte sich von seinem Rosengarten verraten und verfluchte ihn schließlich: Kein Mensch sollte ihn je wieder zu Gesicht bekommen, weder bei Tag noch bei Nacht.«

Lissi hörte die Frau wieder kichern und nahm das als weiteres Zeichen der Ermutigung, genauso lebhaft weiter zu erzählen.

»Allerdings hatte Laurin eine Sache in seinem Fluch vergessen: die Dämmerung! Deshalb kann König Laurins Rosengarten bei Sonnenaufgang und -untergang immer wieder neu erblühen – in Gestalt des Alpenglühens.«

»Enrosadira!«

Nun war Lissi diejenige, die lachte. Aller Unmut war mit einem Mal verflogen. Sogleich überkam sie große Lust, die unbekannte Frau unterzuhaken und diesen mystischen Rosengarten zu durchwandern.

Aber das konnte sie keinesfalls zugeben, denn das hieße ja gewissermaßen, dass sie dieser kauzigen Frau und ihrem Treiben einen Persilschein ausstellen würde. Nein, sie würde sie nicht noch ermutigen, entschied Lissi. Nicht bevor sich das Ganze nicht aufgeklärt hatte.

»Was aber wollen Sie noch hören? Ich kann Ihnen ja schlecht drei Jahre Forschung runterrasseln hier! Was also ist es, was Sie glauben, was ich noch nicht weiß?«

Lissi versuchte, betont sachlich zu wirken.

»Na na, da haben Sie wohl recht, das geht natürlich nicht… Aber verraten Sie mir eins: Was ist mit Similde, denken Sie manchmal an sie?«

Lissi dachte kurz nach. Was bezweckte die Frau mit dieser Frage?

»Die Prinzessin, meinen Sie? Die, die Laurin entführt?«

»Genau die, denken Sie an sie?«

»Wie meinen Sie das: an sie denken?«

»Na wenn Sie da so forschen, spukt Similde Ihnen dabei im Kopf herum?«

Lissi verzog das Gesicht, so als hätte sie soeben in eine Zitrone gebissen.

»Also so würde ich das nicht bezeichnen, mir spukt da niemand im Kopf rum, sondern ich beschäftige mich wissenschaftlich mit dem Mythos, zu dem auch Similde gehört, ja.«

Sie hielt kurz inne, bis ihr einfiel, womit sie ihr Gegenüber womöglich entwaffnen könnte.

»Similde, aus dem Mittelhochdeutschen abgeleitet von sige und milte: Sieg und Liebe bzw. Gnade. Die, die in Gnade siegt, manchmal auch Denn das Gute siegt immer, je nach Interpretationskontext.«

Es kam einem Dozieren gleich.

Die Frau begann laut zu lachen, keineswegs entwaffnet.

»Wie ich sehe, haben Sie Ihre Hausaufgaben gemacht. Ich freue mich, dass Sie Similde nicht vergessen haben; auch wenn Sie nicht verneinen können, dass Laurin derjenige ist, der all die Lorbeeren erhält. Dabei gäbe es ohne Similde unsere Enrosadira gar nicht.«

Lissi dachte einen Moment nach und musste zugeben, dass die Frau Recht hatte: In keiner ihr bekannten Version der Sage wurde Similde eine größere Aufmerksamkeit zuteil. Stets war sie lediglich die Tochter des Widersachers, gegen ihren Willen aus seinen Händen gerissen. Ein zutiefst passiver Charakter, ein Objekt nahezu.

Als könnte sie Lissis Gedanken erraten, sprach die Unbekannte weiter.

»Similde ist eine starke und mutige Frau, aber leider sehen zu wenige das in ihr. Immer ist sie nur die gütige Similde, nur weil sie diesen ihren Namen trägt.«

»Ich muss zugeben: Das ist ein interessanter Gesichtspunkt.«

Lissis Stimme nahm wieder den Tonfall aus dem Hörsaal an.

»Aber das ist eben Teil des überlieferten Mythos. Laurin, der König an der Etsch und die Prinzessin Similde: Das sind nun mal die Protagonisten in dieser Sagenerzählung.«

Die Antwort der Frau ließ nicht lange auf sich warten.

»Aber aber, nun tun Sie dem König und seiner Tochter aber großes Unrecht an.«

»Wieso denn, was meinen Sie damit? Nun hören Sie schon auf, in Rätseln zu reden!«

Doch die fremde Frau ignorierte Lissis barschen Kommentar, ließ sich nicht beirren, sondern bewahrte ihre freundliche, besonnene Art.

»Erinnern Sie sich, was ich ganz zu Anfang gesagt habe? Dass die Menschen glauben, alles über die Berge zu wissen?«

Lissi weigerte sich, der Frau auf diese offensichtlich rhetorische Frage eine Antwort zu geben.

»Sie können sie vermessen, so viel sie wollen, können Wegweiser aufstellen und Hütten bauen, in denen Wanderer und Skifahrer nächtigen können; sie können untersuchen, wie das Wetter und ihr eigenes Verhalten den Bergen zusetzt. Aber manches lässt sich eben nicht berechnen, da kommen Sie mit Ihrer Forschung nicht weiter.«

»Zum Beispiel?«

Lissi war aufmüpfig, ihre Geduld zu Ende, folglich gab sie der Frau keine Gelegenheit, zu antworten.

»Verzeihen Sie, ich möchte nicht unhöflich wirken, aber diese Begegnung hier kommt mir doch überaus merkwürdig, ja beinahe surreal vor! Wissen Sie, ich bin mitten in der Nacht aufgestanden, habe mich die niemals enden wollende Bergstraße hoch geschlängelt und dabei das Lenkrad derart fest umklammert, dass meine Finger bereits geschmerzt haben – aus Sorge, die Kontrolle über mein viel zu kleines Auto zu verlieren, das sich als absolut ungeeignet für diese abenteuerliche Serpentinenfahrt erwiesen hat. Und wofür das alles?«

Lissi hatte sich in Rage geredet, redete sich immer weiter hinein in den Ärger, der in erster Linie ihr selbst galt.

»Ja, wofür nur? Ich verrate es Ihnen: Um endlich die Enrosadira vom Nahen zu sehen, deren Entstehungsmythos ich nun schon seit Monaten studiere; um mittendrin zu sein, wenn die Natur im Rosengarten erwacht, wie sie es sonst nirgends tut; um demütig unterhalb der erhabenen Dolomiten-Gipfel zu stehen und den Blick in die unendliche Ferne schweifen zu lassen. Dann wollte ich ein Foto machen, nur eins, ein gutes, bevor ich diese elendig schwere Kamera wieder einpacken und stattdessen meine Augen als Linse und meinen Kopf als Speichermedium benutzen wollte.«

Lissi schloss die Augen und spürte, dass sie wehmütig wurde.

»Die Farben, die Geräusche und Gerüche: Ich habe mir ausgemalt, wie sich alles in mein Gedächtnis einbrennen würde – und mir für diese vermaledeite Abschlussarbeit neuen Schwung verleihen sollte. Denn so sehr ich mich anfangs auch für europäische Sagen und mythische Alpenfolklore begeistern konnte, bin ich mir mittlerweile nicht mehr sicher, was mich eigentlich an dem Thema so fasziniert hat. Im Grunde will ich einfach nur noch fertig werden! Nur was kommt danach? Ich kann doch nicht einfach das Handtuch schmeißen, jetzt, wo ich so viel Zeit und Energie da reingesteckt habe!«

Lissi stockte, der Kopf saß schwer auf ihrem Hals, fiel in Richtung Brust. Die Frau neben ihr rührte sich nicht, zumindest nicht soweit Lissi das beurteilen konnte.

»Bestimmt halten Sie mich jetzt für vollkommen verrückt!« 

Lissi hob den Kopf wieder, was sie viel Mühe kostete.

»Wie ich hier sitze und Ihnen mein Leid klage. Dabei wissen Sie ja noch gar nicht, was das Allerverrückteste an der ganzen Sache ist! Aber auch diesen Teil werde ich Ihnen auf dem Goldtablett servieren, und ich wette, dieser zweite Akt wird Ihnen besonders gefallen, denn er handelt von der menschlichen Hybris. Vielleicht steckt im Grunde ja doch mehr von Laurin in mir, als mir lieb ist. Laurin, der sich selbst überschätzt und schließlich alles verliert, während andere diese wunderschöne Morgenröte dazu gewinnen. Das könnte im Prinzip auch die Überschrift zu meinem Leben sein.«

Die Wörter purzelten förmlich aus Lissis Mund, ohne dass sie sich selbst hätte stoppen können. Ihr war, als würde eine innere Kraft sie treiben, der sie hilflos ausgeliefert war.

Noch immer war es vollkommen still neben ihr. Kein Atmen, keine Bewegungen, selbst der Wald schien wie gebannt zuzuhören.

»Als ich von der Sonnenaufgangstour erfahren habe, die mich an den Ort meiner Forschung führen würde, bin ich förmlich ekstatisch gewesen, verstehen Sie? Mein ganzer Körper hat wohlig gekribbelt. Aber anstatt mich für die geführte Tour anzumelden, habe ich der Mitarbeiterin der Tourismusstelle großspurig verkündet, auf eigene Faust losziehen zu wollen – für höchste Konzentration bei meiner wissenschaftlichen Unternehmung. Und nun schauen Sie mich an, wie weit ich mit dieser Attitüde gekommen bin: Ich wäre in der schwärzesten Nacht des Jahres beinahe an einem Grat abgestürzt und unterhalte mich mit einer Person, die ich noch nicht mal sehen kann! Wenn das keine Hybris ist, dann weiß ich’s auch nicht.«

Die Stille, die sie umgab, ließ Lissis Ärger weiter anschwellen.

»Wer sind Sie denn bloß? Nun zeigen Sie sich doch mal!«

Am liebsten hätte Lissi der Unbekannten direkt ins Gesicht geleuchtet, besann sich dann aber eines Besseren und ließ ihre Stirnlampe ausgeschaltet; schließlich hatte sie verkündet, nicht unhöflich sein zu wollen.

Sollte die Frau Lissis kurzes Zaudern bemerkt haben, so ließ sie sich nichts anmerken. Da war es wieder, das fröhliche Kichern.

»Wissen Sie«, setzte sie schließlich an, und Lissi freute sich regelrecht, ihre Stimme zu hören. Schlagartig war ihr Ärger passé und machte Platz für ein Gefühl der Erleichterung darüber, dass ihr Monolog endlich ein Ende hatte.

»Die Frage ist nicht, ob Laurin in uns steckt. Denn das tut er ganz bestimmt, in Ihnen, in mir, in uns allen. Viel wichtiger aber ist, was wir mit dieser Erkenntnis tun. Und davon verstehen Sie als Wissenschaftlerin doch was, von Erkenntnisgewinn, nicht wahr?«

Ohne Luft zu holen, geschweige denn Lissi Zeit für eine Replik zu geben, sprach die Frau in ihrer ruhigen Stimme weiter.

»Bald wird die Sonne aufgehen, wenn Sie ganz genau hinschauen, können Sie dahinten am Horizont bereits ihre ersten zaghaften Versuche, sich über das Tal und die Berge zu erheben, erkennen. Folgen Sie diesem Weg bis zu einer Gabelung, die Sie nicht verpassen können, halten Sie sich rechts. Bald darauf windet sich der Weg um einen markanten Felsen herum, hinter dem dann die kleine Kapelle sichtbar wird, die majestätisch über allem thront.«

In Gedanken sprach Lissi der Frau nach, um sich die Wegmarken einzuprägen.

»Würden Sie in der Kapelle ein Lichtlein für mich entzünden, wären Sie so lieb?«

»Das mache ich sehr gern.«

Lissi bemühte sich, wieder freundlich zu klingen. Jetzt ärgerte sie sich, dass sie die arme Frau so angefahren hatte.

»Aber dafür muss ich doch Ihren Namen kennen!«

Sie hoffte auf weitere Hinweise, mit denen sie im Nachgang vielleicht das Rätsel dieser ominösen Berg-Bekanntschaft lösen könnte.

Wieder ertönte das jugendliche Kichern und veranlasste Lissi zu dem Gedanken, dass es sich vielleicht um zwei Menschen handelte, die da in ihrer Nähe ausharrten. Eine Großmutter und ihre Enkelin? Eine mittelalte Frau und ein Junge im Stimmbruch?

»Similde, zünde die Kerzen für Similde an.«

»Was für eine gute Idee, ich werde unsere Prinzessin in Ehren halten”, versprach Lissi. »Aber ich habe nach Ihrem Namen gefragt!«

Sie musste die Unbekannte endgültig enttarnen und sich zurück am Auto direkt umhören, was es mit dieser Frau auf sich hatte, die sich in aller Früh einen Spaß daraus machte, einsamen Wanderinnen aufzulauern!

Aber ihre Gesprächspartnerin machte keine Anstalten, ihre Identität preiszugeben. Stattdessen hörte Lissi, wie es neben ihr laut raschelte. Offenbar hatte die Frau sich erhoben (hatte sie die ganze Zeit gesessen?) und klopfte nun den Staub von den Kleidern, zumindest klang das in Lissis Ohren so. Sollte sie alle Höflichkeitsformen über Bord werfen und sie ins Taschenlampenvisier nehmen?

Jetzt oder nie, dachte Lissi und gerade, als sie sich dazu durchgerungen hatte, Nägel mit Köpfen zu machen und die Frau zur Not am Ärmel zu packen, um genug Zeit zu haben, ihr Gesicht im Schein der Lampe zu studieren und ihn erst wieder loszulassen, sobald sie ihren vollständigen Namen erfahren hatte, gerade in diesem Augenblick ertönte ein letztes Mal diese beruhigende Stimme, die so gut erzählen konnte. Sie verabschiedete sich und wünschte Lissi, deren Namen sie natürlich nicht kannte, noch eine schöne Wanderung und lief schnellen Schrittes davon.

Lissi sprang auf, riss ihre Stirnlampe vom Kopf und drückte energisch auf den Einschaltknopf, aber nichts geschah. Sie drückte ihn wieder und wieder, aber die Lampe wollte nicht angehen. Hastig entfernte sie alle Batterien, schüttelte jede einzelne für wenige Millisekunden und setzte sie dann wieder ein, und dieser Trick hatte seinen Dienst getan, denn augenblicklich erschien ein breiter Lichtstrahl und tauchte alles um Lissi herum in ein warmes Gelb, den Felsen, den schmalen Weg, die nächsten Meter. Die Fremde hätte sich auf diese Weise niemals verstecken können, ärgerte Lissi sich und stolperte in die Richtung, in die sie verschwunden sein musste. Oder war sie doch in die andere Richtung gegangen?

Es war ausweglos.

Wie in Trance ging Lissi die paar Schritte zurück zu ihrem Rucksack, zog ihre Schnürsenkel enger, trank einen Schluck Wasser und machte sich auf den Weg in Richtung Kapelle, denn sicher wäre es zurück zum Auto deutlich länger gewesen. Und außerdem besann Lissi sich erneut, warum sie eigentlich hier war, das würde sie sich jetzt so kurz vor dem Ziel nicht nehmen lassen.

Zudem sollte sie ja eine Kerze für Similde entzünden. Similde und die Enrosadira.

Noch immer konnte sie sich keinen Reim auf die ganze Sache machen. Später würde sie alles wieder und wieder Revue passieren lassen, würde in sämtlichen Dörfern rundherum auf Spurensuche gehen, aber die spärlichen Anhaltspunkte, über die Lissi verfügte, reichten nicht aus, um die Fremde zu finden.

Und mit jedem Mal, das Lissi versuchte, jemandem von der Begegnung zu erzählen, vergaß sie bestimmte Bruchstücke oder dichtete versehentlich andere hinzu, bis sie selber nicht mehr wusste, was eigentlich an diesem Tag kurz vor dem Morgengrauen geschehen war.

Nachdem Lissi sich wenige hundert Meter von der Stelle des Aufeinandertreffens entfernt hatte, bemerkte sie, wie sich links und rechts außerhalb des Lichtkegels schemenhaft mehr von der Landschaft auftat. Fast so, als handelte es sich um eine Theaterbühne, auf der hinter einem dunklen Vorhang allmählich die Silhouetten der Schauspieler und des Bühnenbildes erkennbar werden.

Fünf Minuten später brach der Himmel vor ihr regelrecht auf, in ihr Sichtfeld schoben sich Bäume, Wiesen und Berge, zig davon, in vielen verschiedenen Formen, alles noch grau und farblos, was dem Ganzen eine gewisse Kargheit gab. Lissi lief auf den nächstbesten zu, strich mit der Hand über die raue Oberfläche, rannte dann zur noch dunkel schimmernden Wiese, die sich scheinbar kilometerweit den Hang entlang streckte, vergrub ihre Finger im hohen, nassen Gras, kniete sich hin und berührte mit ihrem Gesicht den Boden, bis ihr das Blut in den Kopf schoss und sie, den saftigen Geruch noch immer in der Nase, wieder aufstand.

Die Welt um sie herum erwachte und wie zum Gruß flatterten zwei Zitronenfalter um sie herum, ihre feinen Flügel bewegten sich schnell und Lissi konnte die filigranen Adern erkennen. Lissi nahm tiefe Atemzüge und erfreute sich an der frischen Bergluft, auf den Blättern der Büsche und Bäume waren noch kleine Wassertropfen zu sehen, die schon bald verdampfen würden.

Als sie um den markantesten Felsen herumgelaufen war, wie die Fremde es ihr erklärt hatte, erspähte sie die kleine Kapelle, und zweifelsohne war es ein majestätischer Anblick. Mit ihrer anthrazitfarbenen Turmspitze und dem roten Dach hob sie sich von dem sie umgebenden Bergmassiv ab, beschützt wie ein zartes Wesen stand sie auf einer kleinen steinigen Hochebene zwischen den imposanten Gipfeln.

Lissi war erleichtert, die kleine Kapelle nun endlich erreicht zu haben. Endgültig fiel alle Anspannung ab, die der schmale Grat und die bizarre Begegnung mit der unbekannten Frau in ihr ausgelöst hatte. Sie spürte, wie die Lebensgeister zurückkehrten, ihre Arme und Beine fühlten sich wieder kräftig an, bereit, sie den letzten Anstieg hinaufzutragen.

Und dann nahm sie wahr, wie sich die Farbe des Himmels langsam veränderte. Schon bald wäre es soweit, Enrosadira.

Sie musste sich beeilen.

✩✩✩

Die ersten Semesterwochen waren Lissi am liebsten. Die Energie, mit der ihre Studierenden in den Hörsaal strömten und mit der sie sich in die ersten Vorlesungen stürzten, spornte sie an. Lissi hatte eine ganz genaue Vorstellung davon, wie sie die kommenden Monate gestalten und welche Schwerpunkte sie setzen würde. Den Höhepunkt würde natürlich die Forschungsreise zu Originalschauplätzen ausgewählter Mythen markieren, für die ihr kürzlich eine beachtliche Summe zugesagt worden war. Als sie der kleinen Studiengruppe die einzelnen Mythen und die dazugehörigen Orte präsentierte, meldete sich ein Student zu Wort, den Lissi bereits aus dem vorherigen Semester kannte.

»Entschuldigen Sie, aber haben Sie sich da nicht vertan? Muss es nicht ‘König Laurin und die Enrosadira’ heißen? Das ist doch die Sage mit dem Rosengarten, oder?«

Lissi spürte förmlich, wie sie zu strahlen begann.

»Similde und die Enrosadira, wir werden über Similde und die Morgenröte im Rosengarten sprechen, aber Sie haben Recht: König Laurin kommt darin ebenfalls vor.«

--

Diese Kurzgeschichte ist zuerst im Band »Aufstieg in den Bergen – Erzählungen und Gedichte über Freundschaften und Begegnungen« (BoD, 2023) erschienen und wurde gekürzt und angepasst.